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63/2024

Mehr als die Hälfte der politisch Engagierten von digitaler Gewalt betroffen

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Die Mehrheit der politisch engagierten Menschen, die auf kommunaler, Landes- Bundes- und EU-Ebene, tätig sind, erlebt digitale Gewalt. Besonders betroffen sind politisch aktive Frauen. Die Auswirkungen auf das politische Engagement sind deutlich sichtbar: Diese reichen von der Einschränkung der Kommunikation in sozialen Medien bis hin zum geplanten Rückzug aus dem politischen Engagement. Zu diesen Erkenntnissen kommt die veröffentlichte Studie „Angegriffen & alleingelassen” der Technischen Universität München (TUM). Die Studie ist nicht repräsentativ, bekräftigt jedoch die besorgniserregende Zunahme digitaler Gewalt gegenüber Politikerinnen und -politiker, insbesondere auch auf kommunaler Ebene. Der DStGB und der StGB NRW setzen sich bereits seit langem aktiv mit konkreten Vorschlägen und Forderungen sowie mit der Webseite Stark-im-Amt für besseren Schutz der kommunalpolitisch Engagierten und der lokalen Demokratie ein.

Die Studie „Angegriffen & alleingelassen: Wie sich digitale Gewalt auf politisches Engagement auswirkt. Ein Lagebild.“ ist in Kooperation mit der Menschenrechtsorganisation HateAid entstanden und wird durch das Bayerische Forschungsinstitut für Digitale Transformation (bidt) der Bayerischen Akademie der Wissenschaften gefördert. In ihr untersuchten Prof. Dr. Janina Steinert, Dr. Angelina Voggenreiter und Luise Koch von der Hochschule für Politik an der TUM, in welchem Ausmaß und in welcher Form politisch engagierte Menschen in Deutschland digitale Gewalt erleben und welche Auswirkungen diese auf das Verhalten und die Bereitschaft der Befragten hat, (weiterhin) politische Verantwortung zu übernehmen.

Befragt wurden insgesamt 1.114 politisch engagierte Personen, die auf kommunaler, Landes- Bundes- und EU-Ebene tätig sind. Der Großteil der Befragten waren Politiker/innen aller im Bundestag vertretenen Parteien. Weitere Teilnehmende waren politisch engagierte Aktivist/innen, Wissenschaftler/innen, Journalist/innen, Publizist/innen und Parteimitglieder ohne politisches Mandat. Durchgeführt wurden eine quantitative Online-Befragung (Erhebungszeitraum 27.4. bis 21.10.24) und zwölf qualitative Interviews (2.7. bis 26.8.24). Die Studie ist nicht repräsentativ.

Das sind die wichtigsten Ergebnisse:

Mehr als die Hälfte der politisch Engagierten ist betroffen. 58 Prozent aller Befragten berichteten von Anfeindungen im Internet. Die meisten richteten sich gegen die politische Positionierung der Betroffenen. Politisch engagierte Frauen erlebten besonders häufig digitale Gewalt. Die Betroffenheit unter Frauen (63 Prozent) ist höher als unter Männern (53 Prozent). 68 Prozent der betroffenen Frauen berichten von geschlechtsspezifischer Gewalt wie Sexismus oder Frauenhass. Fast ein Viertel der weiblichen Betroffenen hat schon einmal Androhungen physischer sexueller Gewalt z. B. Vergewaltigungsdrohungen erhalten (Männer 3 Prozent). Den betroffenen Männern wurde häufiger mit anderen Formen körperlicher Gewalt gedroht, wie Schläge oder Mord (51 Prozent, Frauen 43 Prozent). Personen, die von digitaler Gewalt betroffen sind, berichteten zu einem größeren Anteil davon, auch analoge Gewalt erlebt zu haben: Sie erlebten häufiger physische Angriffe (jeweils 32 Prozent für Männer und Frauen) als diejenigen, die nicht von digitaler Gewalt betroffen waren (10 Prozent der Männer, 14 Prozent der Frauen).

Die Auswirkungen auf das politische Engagement zeigen sich wie folgt:

Mehr als jede zweite betroffene politisch engagierte Person verändert ihre Kommunikation – vor allem Frauen denken ans Aufhören. Von digitaler Gewalt betroffene Frauen (66 Prozent) wie Männer (53 Prozent) schränkten die Nutzung sozialer Medien ein. Sie passten etwa ihren Ton und ihre Inhalte an. 49 Prozent der betroffenen Frauen und 30 Prozent der betroffenen Männer zogen zumindest manchmal in Erwägung, eine Position nicht anzunehmen, da sie fürchteten, in dieser besonders häufig digitalen Anfeindungen ausgesetzt zu sein. Auch ein kompletter Rückzug aus der politischen Arbeit kam für betroffene Frauen deutlich häufiger infrage (22 Prozent; Männer: 10 Prozent).

Politiker/innen und politisch Engagierte wünschen sich angesichts der Anfeindungen mehr Unterstützung. 49 Prozent der Männer und 66 Prozent der Frauen aller befragten Berufsgruppen gaben an, sich hinsichtlich ihres politischen Engagements nicht ausreichend auf digitale Gewalt und ihre Folgen vorbereitet zu fühlen. Nur 45 Prozent der Politiker/innen fühlten sich präventiv gut unterstützt. Mehr als die Hälfte der von digitaler Gewalt Betroffenen äußerte den Wunsch nach mehr Solidarität innerhalb ihrer Gemeinschaften und an ihren Arbeitsplätzen.

Den Volltext zur Studie „Angegriffen & alleingelassen: Wie sich digitale Gewalt auf politisches Engagement auswirkt. Ein Lagebild.“, eine Zusammenfassung sowie weitere Informationen zum Projekt „Safe to engage: Securing democratic voices online“ sind abrufbar unter: hateaid.org

Anmerkung der Geschäftsstellen des DStGB und des StGB NRW

Die Studie bekräftigt das Ausmaß von Unmut, Wut bis hin zu Hass, Anfeindungen und Gegenwehr von Bürgerinnen und Bürger, das auch den kommunalpolitisch Engagierten und insbesondere weibliche Engagierten im digitalen Raum entgegenschlägt und die schwerwiegenden Folgen für das ehrenamtliche politische Engagement. Insbesondere das große Wahljahr 2024 mit insgesamt neun Kommunalwahlen, Europa- und Landtagswahlen hat diese Entwicklung noch einmal sichtbarer gemacht und verstärkt.

Politikerinnen und -politiker auf kommunaler Ebene werden zunehmend zur Projektionsfläche für den Unmut und die Verunsicherungen der Bürgerinnen und Bürger, ohne dass sie globale oder bundespolitische Entscheidungen zu verantworten haben. Mittlerweile ist fast jede und jeder vierte Kommunalpolitikerin und -politiker persönlich – und dass sogar mehrfach – betroffen. Insbesondere Frauen sind dabei signifikant stärker von Hasspostings im Netz betroffen sind, vor allem im Kontext von sexueller Gewalt. Dies bestätigt auch das „Kommunalmonitoring zu Hass, Hetze und Gewalt gegenüber kommunalen Amtsträgerinnen und -trägern“ des BKA mit den kommunalen Spitzenverbänden, dass auch im Jahr 2025 fortgesetzt wird. Die Folgen für unsere Demokratie sind fatal: 82 Prozent leiden an physischen oder psychischen Schäden. 64 Prozent der Betroffenen haben aufgrund der Anfeindungen ihr Verhalten im Amtsalltag geändert. 28 Prozent gaben an, auch vor diesem Hintergrund nicht erneut zu kandidieren. Die Studie, wenn auch nicht repräsentativ, bekräftigt diese besorgniserregenden Ergebnisse im digitalen Raum.

Diese Entwicklungen sind – zusammen mit der finanziellen Schieflage und schwindenden Handlungsspielräumen der Kommunen – für die Demokratie in Deutschland fatal. Demokratie braucht Menschen, die für sie eintreten und sich aber zugleich in der Kommunalpolitik engagieren. Der Schutz der lokalen Demokratie erfordert den besseren Schutz von kommunal Engagierten, eine stärke Sensibilisierung von Polizei und Justiz im Hinblick auf geschlechterspezifische Gewalt im Netz, eine konsequente Ahndung und Verfolgung der Straftaten im digitalen Raum im bestehenden Rechtsrahmen und eine stärkere Verantwortung der sozialen Netzwerk- und Plattformbetreiber, die nach dem Digital Service Act verpflichtet sind, Hass, Anfeindungen und Falschbehauptungen zulasten der Demokratie zumindest zu minimieren. Weitere Strafrechtsverschärfungen zum besseren Schutz vor digitaler Gewalt, wie sie im vergangenen Jahr durch das BMJ und den Bundesrat angestrebt wurden, sind grundsätzlich zu begrüßen und sollten weiterverfolgt werden. Klar ist jedoch, dass jede strafrechtliche und -prozessuale Rechtsänderungen nur dann einen Effekt haben kann, wenn es auch durch das bestehende Personal bei den Sicherheitsbehörden und der Justiz angewandt und umgesetzt werden kann. Wir brauchen daher dringend mehr geschultes und sensibilisiertes Personal bei der Polizei, Ermittlungsbehörden und den Gerichten. Ansonsten laufen die Pläne ins Leere und Hass und Gewalt bleiben ohne jegliche rechtlichen Konsequenzen. Dies führt zu Frustration und zum Teil auch Resignation bei den Betroffenen und lässt Zweifel daran entstehen, ob der Staat ihnen ausreichend Rückendeckung gibt.

Betroffene und Interessierte finden wichtige Informationen sowie Unterstützungsangebote und Kontaktadressen auf der Webseite www.stark-im-amt.de der drei kommunalen Spitzenverbände.

Az.: 15.0.15-002/001