Mitteilungen - Bauen und Vergabe

StGB NRW-Mitteilung 422/2008 vom 04.06.2008

Diskriminierungsverbot auch für Vergaben unterhalb der EU-Schwellenwerte

In einer Entscheidung vom 15. Mai 2008 (Verbundene Rechtssachen C-147/06 und C-148/06) hat sich der Europäische Gerichtshof auf der Grundlage zweier Vorabentscheidungsersuchen eines italienischen Gerichts nach Art. 234 EG erneut mit der Frage befasst, inwieweit die grundlegenden Vorschriften des EG-Vertrags über die Niederlassungs- und die Dienstleistungsfreiheit sowie das allgemeine Diskriminierungsverbot bei Vergaben einer Kommune unterhalb der EU-Schwellenwerte zur Anwendung kommen. Dies hat der EuGH im Ergebnis bejaht und eine Regelung in einem italienischen Gesetz, wonach ein Ausschluss unangemessen niedriger Angebote von Bietern ohne vorherige Aufklärung dieser Angebote durch den Auftraggeber automatisch erfolgen konnte, für mit den Vorschriften des EG-Vertrags nicht vereinbar erklärt. Im Einzelnen:

1. Sachverhalt

Die dem EuGH gestellte Vorlagefrage betraf die EG-Rechtskonformität einer italienischen gesetzlichen Regelung, die den Auftraggeber im Fall von mehr als fünf gültigen Angeboten zwingt, solche Angebote automatisch auszuschließen, die in Anwendung eines mathematischen Kriteriums als ungewöhnlich niedrig angesehen werden, ohne dem Auftraggeber die Möglichkeit zu lassen, die Bestandteile dieser Angebote zu überprüfen, in dem er die betroffenen Bieter zu entsprechenden Erläuterungen auffordert.

2. Entscheidung des EuGH

- EG-Nichtdiskriminierungsverbot gilt auch unterhalb der EU-Schwellenwerte

Der EuGH betont zunächst, dass die besonderen, strengen Verfahren in den Gemeinschaftsrichtlinien zur Koordinierung der Verfahren zur Vergabe öffentlicher Aufträge nur für Verträge geschaffen worden sind, deren Auftragswert in jeweils geltenden EU-Schwellenwert überschreitet. Im Weiteren legt er aber ausführlich dar, dass auch für Verfahren, die nicht den Gemeinschaftsvorschriften unterliegen, die Auftraggeber trotzdem verpflichtet sind, die grundlegenden Vorschriften des EG-Vertrags und insbesondere das Verbot der Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit einzuhalten (Urteil Teleaustria und Telefonadress, Rdn. 60 etc.).

- Voraussetzung: Eindeutiges grenzüberschreitendes Interesse am Auftrag

Der EuGH stellt jedoch heraus, dass die Anwendung der grundlegenden Vorschriften und der allgemeinen Grundsätze des EG-Vertrags auf die Verfahren zur Vergabe von Aufträgen unterhalb der EU-Schwellenwerte gemäß der Rechtsprechung des Gerichtshofs ein eindeutiges grenzüberschreitendes Interesse an diesen Aufträgen voraussetzt (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 13. November 2007, Kommission / Irland, C-507/03, Rdn. 29 und vom 21. Februar 2008, Kommission / Italien, Rdn. 66 und 67). Nach den weiteren Ausführungen des EuGH nimmt aber eine nationale (italienische) Regelung, die den Auftraggeber dazu zwingt, bestimmte Angebote allein nach mathematischen Kriterien als ungewöhnlich niedrig im Verhältnis zu der zu erbringenden Leistung anzusehen, den Bietern gegenüber, die ungewöhnlich niedrige Angebote vorgelegt haben, die Möglichkeit des Nachweises, dass ihre Angebote dennoch vertrauenswürdig und ernsthaft sind.

Insoweit könnte aber nach dem EuGH eine derartige Regelung zu Ergebnissen führen, die mit dem Gemeinschaftsrecht unvereinbar sind, wenn an einem bestimmten Auftrag wegen seiner Eigenarten ein eindeutiges grenzüberschreitendes Interesse bestehen kann und dadurch Wirtschaftsteilnehmer aus anderen Mitgliedsstaaten angezogen werden können.

- Kriterien für grenzüberschreitendes Interesse

Der EuGH führt im Weiteren aus, dass ein Bauauftrag z. B. „ein solch grenzüberschreitendes Interesse aufgrund seines geschätzten Werts in Verbindung mit seinen technischen Merkmalen oder dem für die Durchführung der Arbeiten vorgesehenen Ort, der für ausländische Wirtschaftsteilnehmer interessant sein könnte, wecken kann."

Ist von einem derartigen eindeutig grenzüberschreitenden Interesse auszugehen könnte aber – so der EuGH – die Regelung über den automatischen Ausschluss von als ungewöhnlich niedrig angesehen Angeboten durch den Auftraggeber Wirtschaftsteilnehmer aus anderen Mitgliedsstaaten an der Ausübung ihrer Niederlassungs- und Dienstleistungsfreiheit und an der Ausübung eines wirksamen Wettbewerbs mit den in dem fraglichen Mitgliedsstaat ansässigen Wirtschaftsteilnehmer behindern.

Grundsätzlich, so der EuGH, sei es Sache des öffentlichen Auftraggebers, vor der Festlegung der Bedingungen der Vergabebekanntmachung ein etwaiges grenzüberschreitendes Interesse an einem Auftrag zu prüfen, dessen geschätzter Wert unter dem in den Gemeinschaftsvorschriften vorgesehenen Schwellenwert liegt, wobei diese Prüfung der gerichtlichen Kontrolle unterliege. Es sei jedoch zulässig, in einer nationalen oder örtlichen Regelung objektive Kriterien aufzustellen, die für ein eindeutiges grenzüberschreitendes Interesse sprechen. Als ein solches Kriterium komme insb. ein Auftragswert von gewisser Bedeutung in Verbindung mit dem Ort der Ausführung der Arbeiten in Betracht.

Auch sei es möglich, ein solches Interesse auszuschließen, wenn der fragliche Auftrag z. B. eine sehr geringe wirtschaftliche Bedeutung hat. Allerdings sei zu berücksichtigen, dass die Grenzen manchmal durch Ballungsräume verlaufen, die sich über das Gebiet verschiedener Mitgliedstaaten erstrecken, so dass unter solchen Umständen selbst an Aufträgen mit einem niedrigen Auftragswert ein eindeutiges grenzüberschreitendes Interesse bestehen könne. Der EuGH hat es dem vorlegenden Gericht aufgegeben, alle maßgeblichen Gegebenheiten der Frage des Vorliegens eines eindeutigen grenzüberschreitenden Interesses zu würdigen.

- Automatischer Angebotsausschluss: Diskriminierung

In der Regelung zum automatischen Ausschluss von Bietern sieht der EuGH eine nicht gerechtfertigte mittelbare Diskriminierung. Es könnten Wirtschaftsteilnehmer aus anderen Mitgliedstaaten benachteiligt werden, die aufgrund anderer Kostenstrukturen erhebliche Skalenerträge erzielen können oder sich mit kleineren Gewinnmargen begnügen, um auf dem fraglichen Markt besser Fuß zu fassen, und deshalb in der Lage sind, ein wettbewerbsfähiges und gleichzeitig ernsthaftes und verlässliches Angebot zu machen, das der öffentliche Auftraggeber jedoch wegen der genannten Regelung nicht berücksichtigen könnte.

Außerdem könne eine solche Regelung zu wettbewerbswidrigen Verhaltensweisen und Absprachen und sogar zu kollusiven Praktiken zwischen Unternehmen auf nationaler oder örtlicher Ebene führen, die darauf abzielen, die öffentlichen Bauaufträge diesen Unternehmen vorzubehalten. Ein automatischer Ausschluss bestimmter Angebote wegen ihres ungewöhnlich niedrigen Preises sei allenfalls zulässig, wenn eine übermäßig hohe Zahl von Angeboten die Anwendung einer entsprechenden Vorschrift rechtfertigt. In einem solchen Fall könne der betroffene öffentliche Auftraggeber nämlich gezwungen sein, so viele Angebote einer kontradiktorischen Prüfung zu unterziehen, dass dies seine administrativen Möglichkeiten übersteigen oder durch die Verzögerung, die durch diese Prüfung einträte, die Verwirklichung des Projekts gefährden würde. Der in der italienischen Vorschrift festgelegte Wert von fünf gültigen Angeboten sei jedoch nicht angemessen.

3. Anmerkung der Geschäftsstelle

Die Entscheidung des EuGH vom 15. Mai 2008, in der die Beachtung der Grundsätze des EG-Primärrechts und insbesondere das Diskriminierungsverbot auch für Vergaben unterhalb der EU-Schwellenwerte nochmals herausgestellt wird, liegt in der Linie der bisherigen EuGH-Rechtsprechung. Folge ist, dass Auftraggeber auch unterhalb der EU-Schwellenwerte die Grundprinzipien des EG-Rechts (Wettbewerb, Transparenz, Nichtdiskriminierung) einzuhalten haben. Dies war im vorliegenden Fall bei dem auf gesetzlicher Grundlage automatisch möglichen Ausschluss von Niedrigangeboten (ohne Aufklärung) nicht gegeben.

Dennoch bleibt auch nach der aktuellen EuGH-Entscheidung nach wie vor nicht eindeutig fassbar, wann an einem bestimmten Auftrag aus Sicht des Auftraggebers wegen seiner Eigenarten „ein eindeutiges grenzüberschreitendes Interesse“ besteht.

Wenn der EuGH insoweit davon ausgeht, dass ein solch grenzüberschreitendes Interesse aufgrund des geschätzten Werts in Verbindung mit den technischen Merkmalen oder dem für die Durchführung der Arbeiten vorgesehenen Ort, der für ausländische Wirtschaftsteilnehmer interessant sein könnte, geweckt werden kann, sind die Konturen für diese Voraussetzungen jedenfalls nach wie vor ziemlich nebulös.

Insoweit geht der EuGH nach diesen Vorgaben u. a. davon aus, dass für eine grenznahe Stadt wie Aachen wohl eher ein eindeutiges grenzüberschreitendes Interesse auch bei einer Vergabe unterhalb der EU-Schwellenwerte besteht als z. B. für Paderborn oder Hannover. Ob diese Grenzziehung insgesamt bei einem generell angenommenen EU-weiten Binnenmarkt im Einzelfall zielführend ist, darf zumindest hinterfragt werden.

Daher ist aus Sicht der Geschäftsstelle auch an die Bieter zu appellieren, sich bei Auftragsvergaben unterhalb der EU-Schwellenwerte, die in Deutschland durch die dortigen öffentlichen Auftraggeber auch im nationalen Bereich (VOB/A und VOL/A) bekannt gemacht und damit publiziert werden (Zeitungen, Bekanntmachungsblätter, Internet) entsprechend zu informieren. Die einseitige Aufforderung an die Auftraggeber, Aktivitäten bei Aufträgen unterhalb der EU-Schwellenwerte mit einem eindeutigen grenzüberschreitenden Interesse zu entfalten, dürfte jedenfalls in einem einheitlichen EU-Binnenmarkt, der gleichermaßen Unternehmer wie Auftraggeber betrifft, zu kurz greifen.

Az.: II/1 608-00/3

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