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StGB NRW-Mitteilung 276/2022 vom 25.05.2022
Einrichtungs- und unternehmensbezogene Corona Nachweispflicht verfassungskonform
Mit Beschluss vom 27. April 2022 (1 BvR 2649/21) hat der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts eine Verfassungsbeschwerde gegen die sogenannte einrichtungs- und unternehmensbezogene Nachweispflicht zurückgewiesen. Die angegriffenen Vorschriften verletzen die Beschwerdeführenden nicht in ihren Rechten insbesondere aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG und Art. 12 Abs. 1 GG. Soweit die Regelungen in die genannten Grundrechte eingreifen, sind die-se Eingriffe verfassungsrechtlich gerechtfertigt. Der Gesetzgeber hat im Rahmen des ihm zustehenden Einschätzungsspielraums einen angemessenen Ausgleich zwischen dem mit der Nachweispflicht verfolgten Schutz vulnerabler Menschen vor einer Infektion mit dem Coronavirus SARS-CoV-2 und den Grundrechtsbeeinträchtigungen gefunden. Trotz der hohen Eingriffsintensität müssen die grundrechtlich geschützten Interessen der im Gesundheits- und Pflegebereich tätigen Beschwerdeführenden letztlich zurücktreten.
Das Bundesverfassungsgericht stellt in seinem Beschluss fest, dass die in § 20a IfSG geregelte Nachweispflicht zwar in die durch Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG geschützte körperliche Unversehrtheit eingreife. Der Eingriff sei jedoch verfassungsrechtlich gerechtfertigt.
Zur Begründung führt das Gericht im Wesentlichen Folgendes aus:
1. „Der Gewährleistungsgehalt des Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG wird durch die einrichtungs- und
unternehmensbezogene Pflicht, insbesondere eine Impfung nachzuweisen, verkürzt. Als
Abwehrrecht schützt Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG den Einzelnen grundsätzlich auch vor staatlichen
Maßnahmen, die lediglich mittelbar zu einer Beeinträchtigung der körperlichen Unversehrtheit und
des diesbezüglichen Selbstbestimmungsrechts führen. Dies kann insbesondere dann der Fall sein,
wenn ein Gesetz eine nachteilige Folge an die Wahrnehmung einer grundrechtlich geschützten
Freiheit knüpft, um dieser Grundrechtswahrnehmung entgegenzuwirken.
Danach liegt hier ein zielgerichteter mittelbarer Eingriff in die körperliche Unversehrtheit vor. Zwar
setzt die COVID-19-Impfung eine vorherige, nach ärztlicher Aufklärung erteilte Einwilligung voraus.
Eine Entscheidung gegen die Impfung ist jedoch mit nachteiligen Konsequenzen verbunden,
weshalb die an sich selbstbestimmt zu treffende Impfentscheidung von äußeren, faktischen und
rechtlichen Zwängen bestimmt wird. Wer ungeimpft bleiben will, muss bei Fortsetzung der Tätigkeit
mit einer bußgeldbewehrten Nachweisanforderung und einem bußgeldbewehrten Betretungs- oder
Tätigkeitsverbot in den in § 20a IfSG genannten Einrichtungen und Unternehmen rechnen.
Alternativ bleibt nur die Aufgabe des ausgeübten Berufs, ein Wechsel des Arbeitsplatzes oder
jedenfalls der bis-lang ausgeübten Tätigkeit.
2. Der Eingriff in das Recht auf körperliche Unversehrtheit ist verfassungsrechtlich gerechtfertigt.
a. Der Gesetzgeber verfolgt den legitimen Zweck, vulnerable Menschen vor einer Infektion mit dem
Coronavirus SARS-CoV-2 zu schützen. Während für die meisten Menschen eine COVID-19-
Erkrankung mild verläuft, besteht für bestimmte Personen aufgrund ihres Gesundheitszustandes
und/oder ihres Alters nicht nur ein erhöhtes Risiko für einen schweren oder sogar tödlichen
Krankheitsverlauf. Gerade bei älteren und immunsupprimierten Personen besteht auch ein
erhöhtes Risiko für eine Infektion, da sie auf eine Impfung weniger gut ansprechen. Die
Annahme desGesetzgebers, es bestehe insoweit eine erhebliche Gefahrenlage für gewichtige
Schutzgüter, die gesetzgeberisches Handeln erforderlich mache, beruht auf hinreichend
tragfähigen tatsächlichen Erkenntnissen. Der Gesetzgeber konnte zum Zeitpunkt der
Verabschiedung des Gesetzes von einer sich verschärfenden pandemischen Lage und einer
damit einhergehenden besonderen Gefährdung älterer und vorerkrankter Menschen ausgehen.
Die Annahme insbesondere einer besonderen Gefährdung dieser vulnerablen Menschen trägt
nach wie vor.
b. Die Pflicht zum Nachweis einer COVID-19-Impfung ist im verfassungsrechtlichen Sinne auch
geeignet. Der Gesetzgeber konnte davon ausgehen, dass die Pflicht zum Nachweis einer
Impfung oder Genesung aller Personen, die in bestimmten Einrichtungen oder Unternehmen
tätig sind, zum Schutz des Lebens und der Gesundheit vulnerabler Menschen beitragen kann.
Zum Zeitpunkt der Verabschiedung des Gesetzes ging eine deutliche fachwissenschaftliche
Mehrheit davon aus, dass sich geimpfte und genesene Personen seltener mit dem Coronavirus
SARS-CoV-2 infizieren und daher das Virus seltener übertragen können. Angenommen wurde
auch, dass Geimpfte bei einer Infektion weniger und kürzer als nicht Geimpfte infektiös sind.
c. Die Nachweispflicht ist zum Schutz vulnerabler Menschen auch im verfassungsrechtlichen Sinne
erforderlich. Für den Gesetzgeber bestand insoweit ein weiter Beurteilungsspielraum, denn die
Pandemie ist durch eine gefährliche, aber schwer vorhersehbare Dynamik geprägt, die Sachlage
also komplex. Ausgehend von den bei Verabschiedung des Gesetzes vorhandenen Erkenntnissen
zur Übertragbarkeit des Virus und zu den Möglichkeiten, seiner Verbreitung zu begegnen, ist
Verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden, dass der Gesetzgeber davon ausging, dass keine
sicher gleich wirksamen, aber die betroffenen Grundrechte weniger stark einschränkenden Mittel
zur Verfügung standen.
d. Die Pflicht zum Nachweis einer Impfung ist auf der Grundlage der zum maßgeblichen Zeitpunkt
der Verabschiedung des Gesetzes verfügbaren Erkenntnisse auch verhältnismäßig im engeren
Sinne.
Dem Eingriff in die körperliche Unversehrtheit der Betroffenen sind jedoch Verfassungsgüter mit überragendem Stellenwert gegenüberzustellen. Es obliegt dem Gesetzgeber, sich in Erfüllung seiner ebenfalls aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG folgenden Schutzverpflichtung schützend vor das Leben und die körperliche Unversehrtheit zu stellen. Diese den Gesetzgeber treffende Schutzverpflichtung gegenüber vulnerablen Personen verdichtete sich Anfang Dezember 2021. Zu dieser Zeit war die pandemische Lage nach einer kurzzeitigen Entspannung im Rahmen der vierten Infektionswelle erneut durch eine besondere Infektionsdynamik geprägt, mit der eine zunehmend größere Infektionswahrscheinlichkeit einherging. Diese wirkte sich insbesondere zum Nachteil vulnerabler Menschen aus. Neben dem erhöhten Risiko, schwerwiegend oder sogar tödlich an COVID-19 zu erkranken, war die staatliche Schutzpflicht gegenüber vulnerablen Personen auch des-halb in besonderem Maße aktiviert, weil diese nicht oder allenfalls ein-geschränkt in der Lage sind, ihr Infektionsrisiko durch eine Impfung selbst zu reduzieren.
Es beruht auf einer verfassungsrechtlich nicht zu beanstandenden Abwägung, dass der Gesetzgeber dem Schutz vulnerabler Menschen den Vorrang vor einer in jeder Hinsicht freien Impfentscheidung gegeben hat. Trotz der hohen Eingriffsintensität, die § 20a IfSG bewirkt, müssen die grundrechtlich geschützten Interessen der im Gesundheits- und Pflegebereich Tätigen letztlich zurücktreten.
In die Abwägung ist maßgebend aber auch die besondere Schutzbedürftigkeit derjenigen einzustellen, deren Schutz der Gesetzgeber beabsichtigt. Vulnerable Menschen können sich vielfach weder selbst durch eine Impfung wirksam schützen noch den Kontakt zu den im Gesundheits- und Pflegebereich tätigen Personen vermeiden, da sie auf deren Leistungen typischerweise angewiesen sind. Der sehr geringen Wahrscheinlichkeit von gravierenden Folgen einer Impfung steht im Ergebnis die deutlich höhere Wahrscheinlichkeit einer Beschädigung von Leib und Leben vulnerabler Menschen gegenüber.
Die weitere Entwicklung des Pandemiegeschehens nach Verabschiedung des Gesetzes begründet keine abweichende Beurteilung. Es gab keine neuen Entwicklungen oder besseren Erkenntnisse, die geeignet wären, die ursprünglichen Annahmen des Gesetzgebers durchgreifend zu erschüttern. Es ist weiterhin davon auszugehen, dass eine Impfung jedenfalls einen relevanten – wenn auch mit der Zeit abnehmenden – Schutz vor einer Infektion auch mit der aktuell vorherrschenden Omikronvariante des Virus bietet.“
Anmerkung des DStGB und des StGB NRW
Das Bundesverfassungsgericht hat die einrichtungsbezogene Impflicht zwar für verfassungskonform erklärt, allerdings nur mit Hinweis auf den Einschätzungs- und Prognosespielraum des Bundesgesetzgebers. Damit bleibt das Gericht bei seiner Linie, während der Pandemie dem Gesetzgeber einen größeren Einschätzungsspielraum unter Berücksichtigung der Hinweise von Fachexperten einzuräumen. Mit Blick auf das vorläufige Aus der allgemeinen Impfpflicht stellt sich allerdings die Frage, ob an der einrichtungsbezogenen Impfpflicht noch festgehalten werden kann. Dies auch deshalb, da die Umsetzung für die betroffenen Einrichtungen und Behörden einen hohen Aufwand und Bürokratie bei der Umsetzung erfordern.
Quelle: DStGB Aktuell 2022 vom 20.05.2022
Az.: 15.1.2-007/007