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Mitteilungen - Jugend, Soziales, Gesundheit
StGB NRW-Mitteilung 196/2002 vom 05.04.2002
Empfehlungen für Kinder- und Jugendhilfe im 21. Jahrhundert
Im Zusammenhang mit der Vorlage des 11. Kinder- und Jugendberichts über die Lebenssituation junger Menschen und die Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe in Deutschland hat die Sachverständigenkommission unter Vorsitz von Prof. Dr. Ingo Richter, Direktor des Deutschen Jugendinstituts und beurlaubter Professor für öffentliches Recht an der Universität Hamburg, die nachfolgend im Wortlaut wiedergegebenen 10 Empfehlungen für die Kinder- und Jugendhilfe im 21. Jahrhundert verabschiedet. Es handelt sich bei dem 11. Kinder- und Jugendbericht um den 5. Gesamtbericht seit der Einführung der Jugendberichterstatterung im Jahre 1965 und um den 1. Gesamtbericht seit der Vereinigung der beiden deutschen Staaten sowie seit dem Inkrafttreten des Kinder- und Jugendhilfegesetzes. Die nachfolgenden Empfehlungen decken nicht alle bearbeiteten Schwerpunktthemen des 694 Seiten umfassenden Kinder- und Jugendberichts ab, sondern stellen einige allgemeine Aussagen und Hinweise auf Modernisierungserfordernisse dar, die der Kommission besonders wichtig erschienen. Sie sollen insbesondere den spezifischen Beitrag der Kinder- und Jugendhilfe für die Verwirklichung sozial gerechter Lebensbedingungen für alle Kinder und Jugendlichen benennen.
1. Teilhabe und Zugang
Alle in Deutschland lebenden Kinder und Jugendlichen haben ein Recht auf umfassende Teilhabe an und ungehinderten Zugang zu den sozialen, ökonomischen, ökologischen und kulturellen Ressourcen der Gesellschaft. Die Einlösung dieses Rechtes ist Aufgabe und sollte Ziel aller politischen und gesellschaftlichen Bereiche in Deutschland sein.
2. Anerkennung des Anderen
Angesichts der zunehmenden Ausdifferenzierung der deutschen Gesellschaft ist eine Politik erforderlich, die sich auf den Grundsatz der Anerkennung kultureller Vielfalt stützt. Vor diesem Hintergrund fordert die Kommission die Schaffung der rechtlichen und tatsächlichen Voraussetzungen für die gleichberechtigte Teilhabe an allen Angeboten der Kinder- und Jugendhilfe. Dies gilt insbesondere für den Abbau von sozialer Ungleichheit, die auf Migration, regionalen Disparitäten und Geschlechtszugehörigkeit beruht.
3. Neuer Generationenvertrag
Ein neuer Generationenvertrag kann nur durch einen Systemwechsel bei den sozialen Leistungen, durch eine Umverteilung der Belastungen zwischen den Generationen, durch eine familienfreundliche Gestaltung der Arbeitswelt sowie den Ausbau einer bedarfsgerechten sozialen Infrastruktur in öffentlicher Verantwortung entstehen. Die bessere Förderung der infrastrukturellen Angebote hat Vorrang vor der Erweiterung der individuellen finanziellen Transferleistungen (die Erhöhung des Kindergeldes, Familienlastenausgleich etc.), schränkt aber die Sujektförderung (z.B. Hilfen in besonderen Lebenssituationen) keinesfalls ein ("Dienste vor Geld").
4. Ausbildungs- und Beschäftigungsgarantie
Die Kommission fordert die fristgerechte Umsetzung (bis 2003) der Beschlüsse des Europäischen Beschäftigungsgipfels vom November 1997. Danach besteht die Verpflichtung, daß jeder junge Mensch unabhängig von seinen Lebensbedingungen ein Recht auf einen grundlegenden schulischen Abschluß, auf die Gewährung einer "zweiten Chance" sowie auf eine darüber hinausgehende Förderung seiner Fähigkeiten und Bestrebungen, auf eine berufsqualifizierende Ausbildung und auf eine anschließende erste Beschäftigung bzw. die Teilnahme an einer entsprechenden qualifizierenden Beschäftigungsmaßnahme hat.
5. Ganztagsangebote der Bildung und Betreuung für alle Kinder
Bedingungen für ein gelingendes Aufwachsen sind neben der Stärkung der familialen Erziehung und Bildung qualifizierte Angebote für die Erziehung, Bildung und Betreuung aller Kinder in Kindertageseinrichtungen sowie verläßliche Schulzeiten. Neben diesen Angeboten müssen auch die Einrichtungen der Kinder- und Jugendarbeit zur selbstverständlichen sozialen Infrastruktur gehören. Dies zielt über die Bedingungen für die Vereinbarkeit von Beruf und Familie für Väter und Mütter hinaus auf eine qualifizierte Wahrnehmung und Erweiterung des Bildungsauftrags in allen Handlungsfeldern der Kinder- und Jugendhilfe. Der erforderliche Ausbau von verläßlichen Ganztagsangeboten entsprechend der individuellen Bedürfnisse hat aus Sicht der Kommission Vorrang vor einer generellen Beitragsfreiheit.
6. Die Ausgaben folgen den Aufgaben
Vor dem Hintergrund des gesellschaftlichen Reichtums ist die Verteilung der Ressourcen, die der Kinder- und Jugendhilfe zur Verfügung gestellt werden, Ergebnis politischer Willensbildungsprozesse. Politik hat nicht nur die Aufgabe, gesetzliche Aufträge zu formulieren, sondern ebenso die Pflicht, die erforderlichen Voraussetzungen für die Umsetzung der gesetzlichen Aufträge und die Befriedigung berechtigter Ansprüche durch die Bereitstellung der erforderlichen Ressourcen und der entsprechenden finanziellen Mittel zu schaffen. Der Grundsatz, daß die Ausgaben den Ausgaben zu folgen haben und nicht umgekehrt, daß die Aufgaben nur nach Maßgabe vorhandener Mittel verwirklicht werden können, sollte zwischen den verschiedenen Gesetzgebungsebenen eingehalten werden. Von daher gilt dieser Grundsatz zwischen dem Bund und den Ländern sowie zwischen den Ländern und den Kommunen, aber auch zwischen den Parlamenten bzw. kommunalen Vertretungskörperschaften einerseits und den öffentlichen und freien Trägern der Kinder- und Jugendhilfe andererseits. Dies schafft die Voraussetzungen für die korrekte Anwendung von Steuerungsinstrumenten wie Kontrakt und Budget.
7. KJHG: Umsetzungsdefizite abbauen und Weiterentwicklung vorantreiben
Das Kinder- und Jugendhilfegesetz ist ein modernes und geeignetes Leistungsgesetz. Die Kommission empfiehlt, an seinen Strukturen, Leistungen und Verfahren im Grundsatz festzuhalten, sie weiterzuentwickeln und wirkungsvoll umzusetzen sowie Verbesserungen einzufügen, die im Bericht in verschiedenen Abschnitten benannt sind. Die Erhaltung der Zweistufigkeit (Jugendamt und Landesjugendamt) sowie der sogenannten Zweigliedrigkeit (Verwaltung des Jugendamtes und Jugendhilfeausschusses) ist zwingende Voraussetzung für die wirkungsvolle partnerschaftliche Zusammenarbeit der öffentlichen und freien Träger und die umfassende Beteiligung der Betroffenen.
8. Fachlich regulierter Wettbewerb
Die Aufgaben des Jugendamtes sollen auf Planung, Entscheidung, Evaluation und Controlling konzentriert werden. Das Jugendamt hat im Kontext seiner Gesamtverantwortung für die Kinder- und Jugendhilfe die Rahmenbedingungen für den "fachlich regulierten Qualitätswettbewerb" der freien Träger zu gewährleisten und durch geeignete Steuerungsinstrumente sowie nur subsidiär durch eigene Leistungen die Standards der Leistungserbringung zu sichern.
9. Leistungen bürgerfreundlich gestalten
Die bürgerfreundliche Gestaltung der Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe ist die gemeinsame Aufgabe von Leistungserbringern und Kostenträgern in Zusammenarbeit mit den Gesetzgebern. An die Stelle eines formalen Gesetzesvollzuges und bürokratischer Routinen soll eine moderne Leistungsorganisation treten, die sich am Bedarf und am Ergebnis orientiert und dabei die fachlichen Eckwerte einer modernen Kinder- und Jugendhilfe als qualitätssichernde Standards auch wirklich duchsetzt. Bürgerfreundlich sind die Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe insbesondere dann, wenn niedrigschwellige Zugänge eröffnet werden und verläßliche Hilfen aus einer Hand sowie Spielräume für Mitwirkungschancen vorhanden sind.
10. Fachlichkeit und Fachkräftegebot
Kernpunkt einer modernen und zukunftsfähigen Kinder- und Jugendhilfe ist die Professionalität ihres Personals und die Anerkennung ihres fachlichen Eigensinnes. Fachlichkeit setzt eine qualifizierte Ausbildung, eine kontinuierliche Fort- und Weiterbildung sowie eine den gestiegenen Anforderungen entsprechende Bezahlung der Fachkräfte voraus. Eine wesentliche Voraussetzung für die Weiterentwicklung der Kinder- und Jugendhilfe ist, daß das Fachkräftegebot auf allen Ebenen und für alle Leistungsbereiche der Kinder- und Jugendhilfe umgesetzt wird.
Az.: III 725 - 2