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Mitteilungen - Finanzen und Kommunalwirtschaft
StGB NRW-Mitteilung 183/2002 vom 05.04.2002
Europäisches Wettbewerbsrecht und Daseinsvorsorge
Der Wissenschaftliche Beirat beim Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie nimmt Tendenzen und politische Bemühungen wahr, sich im Bereich der Daseinsvorsorge mehr und mehr aus dem Geltungsbereich des Gemeinschaftsrechts und der Zuständigkeit der Gemeinschaftsorgane zu entfernen. Er hat daher am 20. Februar 2002 ein Gutachten zur "Daseinsvorsorge" im europäischen Binnenmarkt vorgelegt. Darin erhebt er Forderungen, den Bereich der Daseinsvorsorge sowohl im Umfang als auch in der Ausgestaltung auf das unbedingt notwendige Maß zurückzuführen. Das Bundeswirtschaftsministerium hat sich in einer Presseerklärung zu dem Gutachten von wesentlichen Aussagen seines Wissenschaftlichen Beirates distanziert.
Die Ergebnisse und Empfehlungen des Wissenschaftlichen Beirates sind in acht Punkten zusammengefaßt. Diese geben wir Ihnen im Folgenden zur Kenntnis:
1. Der Beirat empfiehlt, jeder Änderung des EG-Vertrages entgegenzutreten, die dazu führen würde, die Begründung, die Organisation, die Finanzierung oder das Marktverhalten von Unternehmen, die Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse erbringen, der Geltung des Gemeinschaftsrechts und der Zuständigkeit der Gemeinschaftsorgane weitgehend zu entziehen. Das gleiche gilt für Richtlinien oder Verordnungen, die zu diesem Ergebnis führen würden.
2. Die Kompetenz der EG-Kommission, das Gemeinschaftsrecht auf öffentliche Unternehmen, auf Unternehmen mit besonderen oder ausschließlichen Rechten und auf Unternehmen, die Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse erbringen, nach Art. 86 Abs. 3 EGV in eigener Zuständigkeit anzuwenden, sollte erhalten bleiben und ihre Ausübung von der Bundesregierung politisch unterstützt werden.
3. Die EG-Kommission sollte sich in der Ausübung ihrer Kompetenzen nicht auf die Prüfung nach Art. 86 Abs. 2 Satz 2 EGV beschränken, ob der Handelsverkehr in einem Ausmaß beeinträchtigt wird, das dem Interesse der Gemeinschaft zuwiderläuft. Die grundsätzliche Bindung der Unternehmen des Art. 86 Abs. 2 EGV an Binnenmarkt und Wettbewerbssystem fordert vielmehr eine Praxis, die Art. 86 Abs. 2 EGV in allen Mitgliedstaaten gleichmäßig und mit gleicher Wirksamkeit anwendet.
4. Übergreifender Maßstab für die Ausübung der Gemeinschaftskompetenzen sollte das an den Normen des Binnenmarktes und des Wettbewerbssystems orientierte Verhältnismäßigkeitsprinzip sein. Die Ausnahmen vom Gemeinschaftsrecht zugunsten von Unternehmen, die Dienste von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse erbringen, sind nur gerechtfertigt, wenn und soweit die Verstöße gegen Binnenmarkt und Wettbewerbssystem nicht weiter gehen, als die Zwecke der mitgliedstaatlichen Regulierung unerläßlich ist.
5. Es besteht ein dringendes öffentliches Interesse, die in der Telekommunikation mit großem Erfolg betriebene Gemeinschaftspolitik zur Auflösung von Staatsmonopolen auf anderen Märkten mit gleicher Entschlossenheit und Wirksamkeit fortzusetzen.
6. Das für die Telekommunikation entwickelte Modell des Universaldienstes beim Übergang vom Monopol zum Wettbewerb eignet sich als Orientierung für eine gemeinschaftsweite Definition der Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse.
7. Die von der Bundesregierung erwogenen oder geforderten Änderungen des Beihilferechts sind teilweise mit gefestigten Grundsätzen des Gemeinschaftsrechts unvereinbar. Diese Initiativen sollten nicht weiter verfolgt werden.
8. Der Beirat begrüßt die Absicht der Kommission, die Anwendung des Beihilferechts der Gemeinschaft weiter zu klären und zu diesem Zweck einen Rechtsrahmen für Beihilfen zu entwickeln, die Unternehmen des Art. 86 Abs. 2 EGV gewährt werden. Die Kontrolle von Beihilfen von geringer Bedeutung ist aufgrund der Verordnung Nr. 69/2001 vom 12.01.2001 entfallen. Damit ist den berechtigten Interessen von Kommunen und Ländern Rechnung getragen, die Reichweite des Gemeinschaftsrechts bei Beihilfen von nur örtlicher oder regionaler Bedeutung zu begrenzen.
Bei der Vorstellung des Gutachtens durch den Vorsitzenden des Wissenschaftlichen Beirats, Herrn Professor Dr. Möschel, wurde die Intention der Beiratsmitglieder deutlich. Der Beirat sieht die Gefahr, daß weite Teile der Daseinsvorsorge aus dem Anwendungsbereich des europäischen Wettbewerbsrechts herausgelöst werden sollen. Die Begründung für diese Sorge sehen die Beiratsmitglieder z. B. in der Aufnahme der Daseinsvorsorge in Art. 36 der Grundrechtecharta, aber auch in den Stellungnahmen Frankreichs und der Bundesrepublik Deutschland zum Rat von Nizza und Laeken.
Nach Auffassung des Beirates darf die Rolle der Kommission bei der Missbrauchsaufsicht und insbesondere der Beihilfenkontrolle im Bereich der Daseinsvorsorge nicht beschränkt werden. Art. 86 Abs. 2 sollte enger ausgelegt werden. Darüber hinaus muß nach Auffassung des Beirates der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz bei der Ausgestaltung von Daseinsvorsorgeleistungen stärker berücksichtigt werden. Herunter gebrochen auf die Kommunen bedeutet dies z. B., daß diese eine Aufgabe der Daseinsvorsorge nicht selbst oder durch eigene Unternehmen, sondern nach Möglichkeit im Wege der Vergabe gewährleisten sollen.
Der Beirat sprach sich außerdem dafür aus, die Liberalisierungspolitik der Kommission weiter fortzuführen. Dabei wurde der Bereich Wasserversorgung ausdrücklich nicht ausgeschlossen.
Hinsichtlich der Beihilfenpolitik kritisierte der Beirat die auch vom DStGB vertretene Auffassung der Bundesrepublik, im Bereich des Sekundärrechts klarstellende Regelungen für den Anwendungsbereich zu erlassen. Insbesondere der Ansatz, daß das Fehlen einer Gewinnerzielungsabsicht mit nicht-wirtschaftlichem Handeln gleichzusetzen ist, sei mit Grundsätzen des europäischen Wettbewerbsrechts nicht vereinbar. Bezogen auf die Kommunen ist der Beirat der Auffassung, daß die De-minimis-Freistellungsverordnung die Interessen insbesondere kleinerer Gemeinden ausreichend berücksichtige.
Das Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie gab zur Veröffentlichung des Gutachtens eine Presseerklärung ab. Darin bestätigte das Ministerium die bereits in der Stellungnahme für den Rat in Laeken abgegebene Position der Bundesregierung zum Bereich Daseinsvorsorge. Betont wird erneut, daß eine Herausnahme der Daseinsvorsorge aus dem europäischen Wettbewerbsrecht durch eine Vertragsänderung nicht unterstützt werde. Außerdem dürfte die Daseinsvorsorgediskussion nicht dafür genutzt werden, als Vorwand zur Behinderung der Marktöffnungspolitik zu dienen. Diese letzte Äußerung war bereits auf Wunsch des Ministeriums in die Stellungnahme der Bundesrepublik zu dem Rat in Laeken eingefügt worden. Sie ist insbesondere von kommunaler Seite kritisiert worden, da sie in ihrer offenen Formulierung auch eine Forderung zur Liberalisierung des Wassermarktes umfassen könnte. Eine solche Intention wird durch das Bundeswirtschaftsministerium bestritten. Die Forderung ziele ausschließlich auf eine Liberalisierung der Energiemärkte in anderen Mitgliedsstaaten (z. B. Frankreich).
In seiner Presseerklärung stellte sich das Bundeswirtschaftsministerium aber auch ausdrücklich gegen Forderungen seines Wissenschaftlichen Beirates. Die Gestaltungsfreiheit der Mitgliedsstaaten im Bereich der Daseinsvorsorge dürfe nicht in Frage gestellt werden. Das Bundeswirtschaftsministerium sprach sich eindeutig gegen ein gemeinschaftsweit geltendes Konzept der Daseinsvorsorge aus. Der Grundsatz der Subsidiarität und vor allem die unterschiedlichen Ausgangslagen und Rahmenbedingungen der Mitgliedsstaaten sprächen dagegen.
Das Gutachten des Wissenschaftlichen Beirates ist auf der Homepage des Bundeswirtschaftsministeriums (www.bmwi.de) abrufbar.
[Quelle: DStGB Aktuell 0802 v. 22.02.2002]
Az.: IV/1 970-08