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Mitteilungen - Finanzen und Kommunalwirtschaft
StGB NRW-Mitteilung 514/2020 vom 27.07.2020
Gutachten zu öffentlicher Infrastruktur
Der Wissenschaftliche Beirat beim Bundesministerium für Wirtschaft und Energie (BMWi) hat am 23.07.2020 ein Gutachten zum Thema „Öffentliche Infrastruktur in Deutschland: Probleme und Reformbedarf“ veröffentlicht. Darin nimmt er eine Bestandsaufnahme zentraler Infrastrukturbereiche in Deutschland vor. Mit Blick auf die Zukunft seien große Anstrengungen insbesondere beim Ausbau der Strom- und Gasnetze und der digitalen Infrastruktur notwendig. Um kommunale Investitionen zu ermöglichen und zu verstärken, fordert der Beirat eine deutliche finanzielle Entlastung der Kommunen.
Ziele und Kernfragen des Gutachtens
Vor dem Hintergrund der Diskussionen um überlastete öffentliche Infrastrukturen (u.a. in Bereichen wie Straßen und Brücken, Schienenverkehrs, IT-Infrastruktur oder Stromnetzen) und der gleichzeitigen Forderung, Deutschland solle seine öffentlichen Investitionen ausweiten, um den deutschen Leistungsbilanzüberschuss zu verringern, analysiert das Gutachten insbesondere die Governance-Strukturen und stellt einen Zusammenhang zur so genannten „Schuldenbremse“ her.
In dieser Diskussion wird die Existenz einer maroden Infrastruktur meist als offensichtlich angesehen und nicht weiter hinterfragt. Stattdessen wird vor allem debattiert, wie sich die öffentlichen Investitionen möglichst schnell möglichst stark erhöhen lassen. Laut den Gutachtern lohnt es sich aber, etwas genauer hinzuschauen, weswegen folgende Kernfragen in dem Gutachten betrachtet werden:
- Wie ist es tatsächlich um die Qualität der deutschen Infrastruktur bestellt?
- Welche politischen und ökonomischen Prozesse sind dafür verantwortlich, dass es zu einer systematischen Vernachlässigung der Investitionen in die Infrastruktur kommt?
- Welche Governance-Strukturen behindern den zügigen Ausbau der Infrastruktur oder ihre Anpassung an neue ökonomische und technische Entwicklungen?
- Kann die Schuldenbremse den Rückgang der öffentlichen Investitionen erklären, und ist ihre Abschaffung zur Ermöglichung höherer Investitionen in der Zukunft notwendig?
Ziel des Gutachtens ist es, zur Klärung dieser grundlegenden Fragen beizutragen, um Handlungshinweise für eine Anpassung der politischen und rechtlichen Rahmenbedingungen zu geben mit dem Ziel einer dauerhaften Verbesserung der Qualität der Infrastruktur.
Schlussfolgerungen des Gutachtens - Investitionen und Schuldenbremse
In Deutschland wird schon seit vielen Jahrzehnten deutlich zu wenig in die öffentliche Infrastruktur investiert. In einigen Bereichen, insbesondere beim Aus- und Umbau der Strom-, Gas- und Wasserstoffnetze und der digitalen Infrastruktur, sind große Anstrengungen notwendig, um die Herausforderungen der Energiewende und der digitalen Revolution zu meistern. Um dies zu erreichen, ist eine Erhöhung der Mittel für öffentliche Investitionen notwendig.
Ob deshalb die Schuldenbremse in ihrer jetzigen Form aufgegeben und durch eine Form der „Goldenen Regel“ und damit einer stärkeren staatlichen Investition durch Verschuldung ersetzt werden sollte, ist im Beirat umstritten. Der Beirat ist sich jedoch einig, dass die Schuldenbremse den Bund, die meisten Länder und die Kommunen in ihrem Investitionsverhalten bisher nicht eingeschränkt hat.
Der Beirat stellt zudem fest, dass eine Ausdehnung der öffentlichen Investitionen nicht nur an einem Mangel an finanziellen Mitteln scheitert. Auch ungeeignete Governance-Strukturen haben maßgeblich zu den beschriebenen Infrastrukturmängeln beigetragen. Der Beirat empfiehlt, die Investitionen langfristig zu verstetigen und zu erhöhen und zwar durch institutionelle Reformen (z. B. Investitionsfördergesellschaften) und die Beseitigung von Fehlanreizen bei der Investitionsplanung.
Schließlich sollten politische Entscheidungsstrukturen, die Investitionen systematisch hemmen oder verzerren, identifiziert und korrigiert werden. Das betrifft laut Beirat zum Beispiel Fehlanreize bei der Investitionstätigkeit der Deutschen Bahn und die Verzögerung von Investitionsprojekten aufgrund von langwierigen Rechtsprozessen. Außerdem sollten Bund und Länder in regelmäßigen Abständen einen Bericht zur Qualität und Leistungsfähigkeit der Infrastruktur und eine alle Infrastrukturbereiche umfassende langfristige Investitionsbedarfsanalyse vorlegen.
Schlussfolgerungen des Gutachtens - Gutachter fordern finanzielle Entlastung der Kommunen
Ein besonderes Problem sind laut Gutachten die Investitionen der oft stark überschuldeten Kommunen. Der Bund sollte zur finanziellen Entlastung der Kommunen beitragen, indem er sie systematisch von allen Sozialausgaben befreit, für die sie selbst keine direkte Verantwortung tragen. Die Länder sollten die Entschuldung der Kommunen ermöglichen.
Zusätzlich sollten Bund und Länder den Kommunen bei der Durchführung der vor der Corona-Pandemie bereits geplanten Investitionen helfen, indem sie eine verstärkte Kofinanzierung anbieten. Die mit der Pandemie verbundenen Entwicklungen berühren verschiedene der in diesem Gutachten angesprochenen Themen, so etwa die Frage nach dem angemessenen Niveau der öffentlichen Investitionen im Gesundheitsbereich, das Problem der Kommunalfinanzen und die Anwendung der Schuldenbremse nach dem Ende der Krise.
Schlussfolgerungen des Gutachtens - Strom und Gasnetz dezentral ausbauen
Den Strom- und Gasnetzen wird grundsätzlich ein guter Zustand durch den Beirat attestiert. Insbesondere die Liberalisierung des Marktes habe zusätzliche Investitionen in die vorhandenen Strukturen ermöglicht. Dies habe u.a. dazu geführt, dass eine Unterbrechung der Versorgung sich stetig verringert hätte. Dennoch entstehe in den kommenden Jahren durch die Energiewende, das Klimapaket und den beschlossenen Kohleausstieg sowie die jüngst verabschiedete Nationale Wasserstoffstrategie (NWS) und die damit verbundenen Bestrebungen, die Wasserstoffwirtschaft in kurzer Zeit zu entwickeln und so fossile Energieträger abzulösen, ein signifikanter Bedarf an Infrastrukturinvestitionen im Energiesektor.
Der Beirat spricht sich für eine Berücksichtigung des Dezentralisierungs- und Flexibilisierungspotentials bei der Netzausbauplanung aus. Anreize zum dezentralen Ausbau erneuerbarer Erzeugung nahe an den Verbrauchszentren sollte daher in den Ausschreibungsverfahren für Wind- und PV-Anlagen entsprechend verankert werden. So könne der EE-Ausbau besser auf die Nachfrage abgestimmt werden, was den Netzausbaubedarf perspektivisch reduziere. Die Sektorenkopplung könne dem zeitlichen oder räumlichen Auseinanderfallen von Erzeugung und Verbrauch entgegenwirken.
Für eine möglichst hohe Akzeptanz des notwendigen Netzausbaus sei eine transparente Strategie beim Netzausbau nach Ansicht des Beirats wichtig. Der von der Bunderegierung in 2015 etablierte Bürgerdialog sei eine gute Grundlage. Auch erhöhte die Erdverkabelung die Akzeptanz. Jedoch erhöhte diese die Kosten für den Netzausbau erheblich. Die Antizipation einer belastbaren Infrastruktur in den Bereichen Strom und Gas und der baldige Beginn der Planung eines Wasserstoffnetzes seien Grundvoraussetzungen für umfangreiche Investitionen in der Privatwirtschaft im Rahmen der Transformation des Energieversorgungssystems und darüber hinaus mit Blick auf eine Transformation großer Teile der deutschen Industrie. Erneuerbare stoffliche Energieträger (Wasserstoff und darauf aufbauende synthetische Energieträger) würden für die Dekarbonisierung eine entscheidende Rolle spielen. Der Wissenschaftliche Beirat empfiehlt u.a. im Bereich der Energienetze die bisher separaten Netzentwicklungspläne Strom und Gas durch eine langfristige, integrierte Infrastrukturplanung für Strom, Gas und Wasserstoff abzulösen. Auch soll die Anrechenbarkeit von Investitionen in Flexibilisierungsoptionen bei Netzengpässen verbessert werden. Dies würde nach Ansicht des Beirats mehr Investitionsanreize schaffen.
Anmerkung
Gerade die steigenden Sozialausgaben führen vielerorts unweigerlich zu einem explodierenden kommunalen Investitionsrückstand. Mit 147 Mrd. Euro ist dieser weiter besorgniserregend hoch (KfW-Kommunalpanel 2020). Der wissenschaftliche Beirat des BMWi bescheinigt zurecht das Erfordernis, die Kommunen stärker zu entlasten und nennt explizit die Entlastung der Sozialausgaben und die Entschuldung der Kommunen als wirksames Mittel. So könnte die kommunale Investitionstätigkeit dauerhaft erhöht und konstant gehalten werden.
Vor dem Hintergrund der im Zuge der Corona-Pandemie einbrechenden kommunalen Einnahmen und steigenden Ausgaben bedarf es zur Aufrechterhaltung der kommunalen Investitionsfähigkeit umfassende kommunale Rettungsschirme auf Ebene des Bundes sowie der Länder. Die mit dem Konjunkturpaket anvisierte Übernahme der Corona-bedingten Gewerbesteuerausfälle sowie der Erhöhung des Bundesanteils an den Kosten der Unterkunft und Heizung gehen hier in die richtige Richtung. Eine Stabilisierung der kommunalen Einnahmeausfälle bei anderen Steuerarten ist bundesseitig jedoch nicht vorgesehen, auch gilt die Gewerbesteuerkompensation nur für das laufende Jahr. Zumindest für das kommende Jahr muss aber ebenfalls mit deutlich niedrigeren Steuereinnahmen gerechnet werden als ursprünglich bei der Herbst-Steuerschätzung im vergangenen Jahr prognostiziert.
Die über viele Jahre fehlenden Finanzmittel sind zwar ursächlich für den massiven Investitionsrückstand, aber nicht alleiniger Grund für den nur langsam voranschreitenden Abbau des Investitionsstaus. Investitionen in die kommunale Infrastruktur werden durch überbordende Standards und Regelungen verteuert, verlangsamt und mitunter auch ganz verhindert. Hinzu kommen Kapazitätsprobleme beim Personal und den Planungsmöglichkeiten der Kommunen und der Unternehmen. Es gilt ungenutztes Ausbaupotenzial bei der öffentlichen und der privaten Kooperation zu heben und Innovationen in der Investitionstätigkeit zu fördern. Bund und Länder sind daher aufgefordert gemeinsam mit den Kommunen ein leistungsstarkes Konzept zum Abbau des öffentlichen Investitionsrückstandes auszuarbeiten und umzusetzen.
Der DStGB hat einen Maßnahmenkatalog zum Abbau des kommunalen Investitionsrückstands entwickelt. Neben einer besseren Finanzausstattung der Kommunen werden darin unter anderem eine Stärkung kommunaler Planungskapazitäten, mehr interkommunale Zusammenarbeit, Digitalisierung und eine Verkürzung des gerichtlichen Instanzenzuges gefordert.
Die Herausforderungen einer dezentralen Energieversorgung sind zugleich eine Chance für viele Stadtwerke bzw. kommunalgeprägte Unternehmen, ihre wirtschaftlichen Aktivitäten zu erhöhen und die Energiewende zu unterstützen. Gleichzeitig müssen finanzielle Anreize geschaffen werden, die auf allen Ebenen der Energieerzeugung die Sektorenkopplung fördern. Der Netzausbau ist die Achillesferse der Energiewende. Dies bedeutet, dass bei der konkreten Umsetzung allen Kommunen bspw. bei Pachtverträgen gleich gute Konditionen angeboten werden müssen, um den Ausbau zu beschleunigen. Das „Netzausbaubeschleunigungsgesetz“ bietet gute Anreize, den Netzausbau schneller als in der Vergangenheit umzusetzen. Das Verfahren zum Netzausbau auf der Übertragungsnetzebene muss dringend weiter beschleunigt und gestrafft werden. Hierzu gehört auch - wie allgemein beim Ausbau erneuerbarer Energien -, die Dauer von Widerspruchs- und Klageverfahren durch mehr Personal in Verwaltung und Justiz deutlich zu verkürzen. Daneben müssen sich Investitionen in intelligente Verteilnetze lohnen, um die Digitalisierung der Energiewende zu forcieren und beispielsweise das „gesteuerte Laden“ von E-Autos zu ermöglichen, was zugleich die Stromnetze entlastet.
Weitere Informationen
Gutachten „Öffentliche Infrastruktur in Deutschland: Probleme und Reformbedarf“ des Wissenschaftlichen Beirats beim Bundesministerium für Wirtschaft und Energie: www.bmwi.de
DStGB-Positionspapier „Maßnahmenkatalog zum Abbau des kommunalen Investitionsrückstandes“ auf der Webseite des DStGB: www.dstgb.de (Rubrik: Publikationen / Positionspapiere)
KfW-Kommunalpanel 2020: www.dstgb.de (Rubrik: Schwerpunkte / Kommunalfinanzen)
Az.: 28.6.1-002/004 we