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Mitteilungen - Bauen und Vergabe
StGB NRW-Mitteilung 164/2018 vom 16.02.2018
Oberverwaltungsgericht Münster zu Frist bei Erschließungsbeiträgen
Die Erhebung eines Erschließungsbeitrags verstößt nach Ablauf einer Frist von 30 Jahren gegen den Grundsatz von Trau und Glauben, wenn sich die Vorteilslage durch die technische Fertigstellung der Straße bereits verwirklicht hat. Dies hat das OVG NRW mit seinem Urteil vom 24.11.2017 (Az. 15 A 1812/16) entschieden.
Die beklagte Stadt hatte entlang einer Straße Ende des Jahres 1983 erstmals eine Straßenbeleuchtung errichtet. Die Fahrbahn wurde im Jahr 1984 mit einer Decke aus Asphaltbeton und Randeinfassungen ausgebaut. Gleichzeitig wurde die Straßenentwässerung in Form eines Regenwasserkanals mit angeschlossenen Sinkkästen hergestellt. Die beiderseitigen Gehwege wurden in Asphaltbeton-Bauweise ausgebaut und mit Randeinfassungen zu den angrenzenden Grundstücken versehen. Die letzte Baumaßnahme wurde durch die Stadt am 16.05.1984 abgenommen.
Es fehlten zu diesem Zeitpunkt aber noch das Eigentum der Stadt an einzelnen Gehwegflächen sowie einzelne Randeinfassungen zwischen dem Gehweg und den jeweiligen Anliegergrundstücken. Der Rat der Stadt beschloss am 28.02.2011 den Erlass einer Abweichungssatzung, nach der die Erschließungsanlage abweichend von den in der Erschließungsbeitragssatzung (EBS) der Stadt bestimmten Herstellungsmerkmalen als endgültig hergestellt gelten solle. Daraufhin wurde ein Anlieger mit Bescheid vom 29.08.2014 zur Zahlung eines Erschließungsbeitrags aufgefordert. Hiergegen erhob er Klage.
Das OVG kommt zu dem Ergebnis, dass die Erhebung des Erschließungsbeitrags gegen den allgemeinen Grundsatz von Treu und Glauben verstoße, der auch im Abgabenrecht Berücksichtigung findet. Die Erhebung von Erschließungsbeiträgen widerspreche dem Gebot der Belastungsklarheit- und vorhersehbarkeit, das Ausdruck von Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Gebot der Rechtssicherheit (Art. 20 Abs. 3 GG) ist.
Der Senat verweist auf eine Grundsatzentscheidung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG), wonach Einzelne gegenüber dem Staat die Erwartung hegen dürften, sich nicht mehr einer Geldforderung ausgesetzt zu sehen, wenn der berechtigte Hoheitsträger über einen längeren Zeitraum seine entsprechende Befugnis nicht wahrgenommen habe. Der Grundsatz der Rechtssicherheit gebiete es daher auch bei der Erhebung von Beiträgen, dass ein Vorteilsempfänger in zumutbarer Zeit Klarheit darüber gewinnen könne, ob und in welchem Umfang er die erlangten Vorteile durch Beiträge ausgleichen müsse. Im Laufe der Zeit sei eine solche Unklarheit der Bürgerin oder dem Bürger immer weniger zuzumuten (BVerfGE 133, 143).
Das Gebot der Belastungsklarheit und -vorhersehbarkeit finde nach Auffassung des OVG Anwendung auf alle diesbezüglichen abzugeltenden Vorteilslagen, bei denen die entsprechenden Beiträge wegen Fehlens anderweitiger Voraussetzungen nicht entstehen und daher in der Folge aufgrund der anzuwendenden Verjährungsvorschriften auch nicht verjähren können. Auf eine Unterscheidung zwischen Anschluss- und Erschließungsbeiträgen komme es insoweit nicht an.
Der Begriff der Vorteilslage sei dahingehend zu verstehen, dass sich deren Bestehen für den Beitragspflichtigen unter Zugrundelegung eines objektiven Empfängerhorizontes ohne Weiteres ergeben muss. Damit müsse es auf tatsächliche, nicht auf rechtliche Voraussetzungen für das Entstehen der Beitragspflicht ankommen. Demnach sei eine derartige Vorteilslage für das Erschließungsbeitragsrecht anzunehmen, wenn eine dem Grundsatz nach beitragsfähige Erschließungsanlage — für den Beitragspflichtigen erkennbar — den an sie im jeweiligen Fall zu stellenden technischen Anforderungen entspricht.
Dies sei jedenfalls der Fall, wenn die in der EBS der Gemeinde festgelegten, zum Teil durch das jeweilige Bauprogramm konkretisierten tatsächlichen Merkmale der endgültigen Herstellung einer Erschließungsanlage erfüllt sind. Maßgeblich für die Beurteilung sei die in diesem Zeitpunkt geltende Erschließungsbeitragssatzung der Gemeinde; etwaige Änderungen bis zum Entstehen des Beitragsanspruchs infolge der Erfüllung weiterer notwendiger Anspruchsvoraussetzungen, wie der Widmung, blieben außer Betracht.
Die technische Herstellung sah das OVG als gegeben an. Nichts anderes ergebe sich wegen der fehlenden Randeinfassungen. Diese seien weder nach der EBS noch tiefbautechnisch erforderlich. Die Erforderlichkeit ergebe sich entgegen der Ansicht der Stadt auch nicht daraus, dass ohne diese Einfassungen die Grenze zwischen öffentlicher Gehwegfläche und Anliegergrundstücken nicht erkennbar wäre. Ob dieser (alleinige) Zweck das Setzen von Randeinfassungen überhaupt rechtfertigen würde, könne dahinstehen.
Eine solche Unterscheidung sei bei einer Ausführung der Teileinrichtung Gehweg in Asphaltbeton-Bauweise nämlich auch ohne Randeinfassung möglich.
Zur Bestimmung des Zeitraumes, der nach Eintritt der tatsächlichen Vorteilslage verstrichen sein muss, bevor von einer Treuwidrigkeit auszugehen ist, sei auf die Wertungen allgemeiner Verjährungsvorschriften zurückzugreifen.
So beträgt nach § 53 Abs. 2 Satz 1 VwVfG NRW die Verjährungsfrist bei einem unanfechtbaren Verwaltungsakt, der zur Feststellung oder Durchsetzung des Anspruchs eines öffentlich-rechtlichen Rechtsträgers erlassen wird, 30 Jahre. Diese Wertung könne, auch wenn § 53 VwVfG NRW nicht direkt anwendbar sei, auch hier herangezogen werden. Maßgeblich sei vorliegend die Erfüllung der technischen Herstellungsmerkmale, die jedenfalls im Zeitpunkt der Abnahme der letzten Bauleistung am 16.05.1984 eingetreten sei.
Anmerkung
Das OVG bestätigt mit seinem aktuellen Urteil die vorangegangene Entscheidung des VG Düsseldorf aus dem Jahr 2016 (siehe hierzu StGB NRW-Mitteilung 568/2016 vom 05.07.2016). Sie steht auch im Einklang mit gleichlautenden Urteilen anderer Oberverwaltungsgerichte und ist angesichts der Grundsatzentscheidung des BVerfG nicht überraschend. Die Praxisrelevanz des Urteils ist gleichwohl nicht unerheblich. Im Erschließungsbeitragsrecht müssen für den Fristbeginn der Festsetzungsverjährung, die vier Jahre beträgt, neben der Widmung die gem. § 132 Nr. 4 BauGB in der EBS zu regelnden Merkmale der endgültigen Herstellung einer Erschließungsanlage erfüllt sein.
Regelmäßig werden Erschließungsmaßnahmen aber erst nach einigen Jahren vollendet. In den meisten Städten und Gemeinden wird zudem in der jeweiligen EBS — was auch nach wie vor sinnvoll ist — der Grunderwerb als Herstellungsmerkmal vorgesehen. Fehlt es noch an einem Herstellungsmerkmal, beginnt die Frist für die Festsetzungsverjährung eigentlich noch nicht zu laufen. Das OVG NRW stellt nun aber klar, dass dies bei Merkmalen, die für die Anlieger äußerlich nicht erkennbar sind — hier: die fehlende Erlangung des Eigentums — nicht gelten soll. Kommunen müssen sich daher darauf einstellen, dass Erschließungsbeiträge (und ebenso wohl auch Anschlussbeiträge) 30 Jahre nach Erfüllung der technischen Herstellungsmerkmale nicht mehr erhoben werden können.
Az.: 21.2.1-005/002