Mitteilungen - Umwelt, Abfall, Abwasser

StGB NRW-Mitteilung 348/2022 vom 23.05.2022

OVG NRW zur Abwassergebühren-Kalkulation

Das OVG NRW hat mit Urteil vom 17.05.2022 (Az.: 9 A 1019/20) die seit dem Jahr 1994 geltende, ständige Rechtsprechung zur kalkulatorischen Abschreibung und Verzinsung von langlebigen Anlagegütern (wie z. B. öffentlichen Abwasserkanälen) im Rahmen der Kalkulation von Benutzungsgebühren (hier: Abwassergebühren) aufgegeben und geändert.

Es ist zu beachten, dass die Erhebung der Abwassergebühren im Einklang mit der bislang ständigen Rechtsprechung des OVG NRW seit dem Jahr 1994 zum Zeitpunkt des Erlasses der Gebührenbescheide in den zurückliegenden Jahren rechtmäßig gewesen war. Dieses hatte das VG Gelsenkirchen mit Urteil vom 13.02.2020 (– 13 K 4705/17 - ) bestätigt und die Klage des Klägers abgewiesen. Dieses Urteil des VG Gelsenkirchen hat das OVG NRW nunmehr mit Urteil vom 17.05.2022 (9 A 1019/20) aufgehoben, weil es seine Rechtsprechung, die seit dem Jahr 1994 galt, geändert hat.

Allerdings muss durch die Änderung der Rechtsprechung seit dem 17.05.2022 eine Anpassung an die neuen Rechtvorgaben des OVG NRW erfolgen. Dieses betrifft insbesondere Gebührenbescheide, die ergangen sind und noch nicht bestandkräftig sind.

1. Bestandskräftige Abgabenbescheide

Bestandskräftige Abgabenbescheide müssen nicht aufgehoben werden, weil gemäß § 12 Abs. 1 Nr. 3 b KAG NRW i. V. m. § 130 Abs. 1 Abgabenordnung im Rahmen einer Ermessensausübung dem Prinzip der Bestandkraft eines Verwaltungsaktes der Vorrang vor dem Prinzip der materiellen Gerechtigkeit gegeben werden kann (vgl. OVG NRW, Beschluss vom 20.02.2020 – 15 A 734/19 – zum Erschließungsbeitrag; OVG NRW, Urteil vom 18.03.1996 – 9 A 3703/93 - ; OVG NRW, Urteil vom 16.06.1994 -  9 A 128/94 - ; VG Düsseldorf, Urteil vom 31.03.2022 – 17 K 673/10 – ; VG Köln, Urteil vom 30.04.2018 – 14 K 3287/17 - ; VG Köln, Urteil vom 14.06.2012 – 14 K 726/11 - jeweils abrufbar unter: www.justiz.nrw.de).

§ 130 Abs. 1 AO dient nicht dazu, die Folgen eines nicht eingelegten Widerspruchs auszugleichen (so: OVG NRW, Beschluss vom 20.02.2020 – 15 A 734/19 -  Rz. 25 der Beschlussgründe). In diesem Zusammenhang ist auch zu berücksichtigen, dass die bestandskräftigen Gebührenbescheide vor dem Urteil des OVG NRW vom 17.05.2022 im Einklang mit dem KAG NRW und der seit dem Jahr 1994 durchgängig geltenden und ständigen Rechtsprechung des OVG NRW ergangen sind.

Außerdem ist darauf hinzuweisen, dass jedenfalls ein bestandkräftiger Gebührenbescheid nach Ablauf der vierjährigen Festsetzungsverjährungsfrist nicht mehr geändert oder aufgehoben werden darf (§ 12 Abs. 1 Nr. 4 b KAG NRW i. V. m. § 169 Abs. 1 Satz 1 Abgabenordnung (so bereits: OVG NRW, Urteil vom 18.03.1996 – 9 A 3703/93 – Rz. 34 der Urteilsgründe; OVG NRW, Urteil vom 16.06.1994 - 9 A 128/94 - Rz. 40 der Urteilsgründe).

Wenn Abwassergebühren auf der Grundlage von Vorausleistungen (§ 6 Abs. 4 KAG NRW) erhoben worden sind, wird sich die Notwendigkeit ergeben, die Gebührenkalkulation auf der Grundlage des Urteils des OVG NRW vom 17.05.2022 anzupassen, wenn ein endgültiger Gebühren-Abrechnungsbescheid noch nicht ergangen ist, der wiederum bestandskräftig geworden ist.

2. Kalkulatorische Abschreibung und Verzinsung

Bislang gibt es nur eine Presseerklärung des OVG NRW vom 17.05.2022 (abrufbar unter: www.ovg.nrw.de). Die Urteilsgründe liegen noch nicht vor. Auf der Grundlage der Presseerklärung des OVG NRW kann zurzeit nur auf Folgendes hingewiesen werden:

Laut der Pressemitteilung des OVG NRW vom 17.05.2022 ist jedenfalls der gleichzeitige Ansatz einer kalkulatorischen Abschreibung auf der Grundlage des Wiederbeschaffungszeitwertes sowie zugleich und zusätzlich einer kalkulatorischen Verzinsung des Anlagevermögens mit dem Nominalzinssatz (einschließlich Inflationsrate) unzulässig, weil sich dadurch ein doppelten Inflationsausgleich ergibt. Gleichwohl kann aus der Presseerklärung vom 17.05.2022 ebenso im Grundsatz entnommen werden, dass das eingeholte betriebswirtschaftliche Gutachten wohl zu dem Ergebnis gekommen ist, dass in der betriebswirtschaftlichen Literatur die Abschreibung nach dem Wiederbeschaffungszeitwert als sinnvoll angesehen wird, um eine Wiederbeschaffung von Anlagegütern sicherzustellen.

Bei der kalkulatorischen Verzinsung akzeptiert das OVG NRW die Berechnung eines Durchschnittzinssatzes auf der Grundlage des Anschaffungs-/Herstellungswertes über einen Zeitraum von 50 Jahren nicht mehr. Angemessen ist – so das OVG NRW – nur noch eine einheitliche Verzinsung (einheitlicher Nominalzinssatz für Eigen- und Fremdkapital) und zwar bezogen auf den 10jährigen Durchschnitt der Emissionsrenditen für festverzinsliche Wertpapiere inländischer öffentlicher Emittenten und dieses ohne einen weiteren sog. Puffer-Zuschlag bei sog. Fremdkrediten (bislang bis zum 16.05.2022: 0,5 %).

Vor diesem Hintergrund müssen jedenfalls die Gebührenkalkulationen für das Jahr 2023 an diese geänderte und neue Rechtsprechung angepasst werden. In welcher Art und Weise diese Anpassung durchgeführt werden muss, kann aber erst auf der Grundlage der schriftlichen Urteilsgründe des OVG NRW abschließend und verlässlich geklärt werden.  

Dieses gilt insbesondere mit Blick darauf, dass das vom OVG NRW eingeholte Gutachten wohl erwiesen hat, dass die Kombination von Abschreibungen (auch auf der Grundlage des Wiederbeschaffungszeitwertes) und Zinsen grundsätzlich betriebswirtschaftlich vertretbar ist, worauf das KAG NRW in § 6 Abs. 2 KAG NRW (sog. betriebswirtschaftlicher Kostenbegriff) abstellt. Erst auf der Grundlage der schriftlichen Urteilsgründe wird dann verlässlich geprüft werden können, wie eingelegte Widersprüche endgültig zu bescheiden sind.

3. Anpassung im Einzelfall

Maßgeblich kommt es bei jeder Stadt bzw. Gemeinde im konkreten Einzelfall immer darauf, auf welcher Grundlage bislang die kalkulatorische Abschreibung (Anschaffungs-/Herstellungswert oder Wiederbeschaffungszeitwert) durchgeführt worden ist und welcher Zinssatz von der Stadt/Gemeinde ganz konkret angesetzt worden ist. Die generelle Schlussfolgerung ist jedenfalls unzutreffend, dass der Kostenansatz bei der Gebührenkalkulation der Abwassergebühren in jeder Stadt/Gemeinde ebenso wie bei der betroffenen Stadt im Urteil des OVG NRW vom 17.05.2022 um 18% überhöht waren. Hinzu kommt, dass sich diese Aussage in dem Urteil des OVG NRW auf den Kostenansatz in der Gebührenkalkulation und nicht auf den konkreten Gebührensatz bezieht, der pro Kubikmeter bei der Schmutzwassergebühr (Frischwasser = Schmutzwasser) und bei der Niederschlagswassergebühr pro Quadratmeter bebaute und/oder befestigte in den öffentlichen Kanal abflusswirksame Fläche bezieht. Die Gebührenbelastung ist somit bei jedem gebührenpflichtigen Grundstück stets entsprechend der Inanspruchnahme der öffentliche Abwasseranlage unterschiedlich.

4. Rechtsweg zum BVerwG offen

Es ist bislang noch offen, ob Beschwerde beim Bundesverwaltungsgericht (BVerwG) gegen das Urteil des OVG NRW vom 17.05.2022 eingelegt wird, weil das OVG NRW die Revision gegen das Urteil nicht zugelassen hat.

Az.: 24.1.2.1 qu

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