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StGB NRW-Mitteilung 433/1998 vom 05.08.1998
Situation von Arbeitnehmerhaushalten mit Niedrigeinkommen
Im Rahmen der Sozialberichterstattung des Landes Nordrhein-Westfalen haben Prof. Dr. Gerhard Bäcker, Fachhochschule Niederrhein in Mönchengladbach, und Prof. Dr. Walter Hanesch, Fachhochschule Darmstadt, die Lebenssituation von Arbeitnehmern und Arbeitnehmerhaushalten mit Niedrigeinkommen in Nordrhein-Westfalen untersucht. Dabei konzentriert sich die Studie weitgehend auf eine Analyse der Ressourcen bzw. Einkommenslage. Erstmals wird für ein Bundesland in der Untersuchung auch der Frage nachgegangen, wie sich niedrige persönliche Arbeitseinkommen auf das gesamte Haushaltseinkommen auswirken.
Ein wichtiges Ergebnis der Studie ist, daß über 2 Mio. Menschen in NRW zu den Haushalten gehören, die über ein Einkommen verfügen, das unterhalb von 50 % des Durchschnittseinkommens liegt. Damit belegt die Untersuchung eindrucksvoll, daß nicht nur die "klassischen Armutsgruppen", wie Sozialhilfeempfänger und Arbeitslose, sondern auch eine große Gruppe von "normalen" Erwerbstätigen im Niedriglohnsektor - vor allem im Familienverbund - von der Wohlstandsentwicklung abgekoppelt sind.
Nachfolgend wird die Zusammenfassung der Berichtergebnisse aus Band 7 "Arbeitnehmer und Arbeitnehmerhaushalte mit Niedrigeinkommen" des Landessozialberichts wiedergegeben, die vom Ministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales des Landes Nordrhein-Westfalen im Januar 1998 veröffentlicht wurde und beim neu gebildeten Ministerium für Arbeit, Soziales und Stadtentwicklung - Referat Öffentlichkeitsarbeit -, Fürstenwall 25, 40219 Düsseldorf, Fax: 0211/8 55 - 36 83, angefordert werden kann.
1. Entgegen weit verbreiteten Vorstellungen weisen die tariflichen und effektiven Verdienste der Arbeitnehmer in Nordrhein-Westfalen ebenso wie im Bundesgebiet einen hohen Grad an Differenzierung auf. Charakteristisch für die Lohnstruktur in der Bundesrepublik ist eine Differenzierung nach Wirtschaftssektoren, nach Regionen, nach beruflichem Status, Qualifikation und Geschlecht der Arbeitnehmer. Der Beschäftigtenstatistik läßt sich entnehmen, daß die Ungleichheit der Verteilung individueller Arbeitnehmerverdienste seit Anfang der 80er Jahre in Nordrhein-Westfalen trendmäßig zugenommen hat; zugleich ist der Anteil der vollzeitbeschäftigten Arbeitnehmer gestiegen, die ein Entgelt bezogen, das bis zu 75 vH des westdeutschen Durchschnittsverdienstes beträgt. 1995 waren dies 23,8 vH, von denen ein Drittel sogar nur über maximal 50 vH des Durchschnitts verfügten, während zwei Drittel im Bereich zwischen 51 und 75 vH des Durchschnittsverdienstes lagen. Generell liegen die Verdienste in Nordrhein-Westfalen im Durchschnitt etwas höher als im alten Bundesgebiet, entsprechend liegt der Niedrigverdieneranteil in NRW etwas niedriger als auf Bundesebene; Niveau und Struktur der Verdienste fallen somit günstiger aus als im alten Bundesgebiet.
2. Überdurchschnittliche Anteile an den Niedrigverdienern weisen Frauen auf: 45 vH aller Arbeitnehmerinnen verdienen weniger als die genannten 75 vH des Durchschnittsverdienstes. Ebenso sind ausländische Beschäftigte unter den Niedrigverdienern überdurchschnittlich stark vertreten (34,5 vH), obgleich - absolut gesehen - mehr Deutsche als Ausländer zu einem Niedriglohn arbeiten. Überdurchschnittliche Anteile an Niedrigverdienern sind weiterhin für die unteren Altersgruppen (im Alter bis unter 30 Jahren) festzustellen. Gleiches gilt für Arbeitnehmer mit geringen beruflichen Qualifikationen (36,3 vH). Branchen mit absolut und relativ gesehen überdurchschnittlich vielen Niedrigverdienern sind die Haushaltsbezogenen Dienste, die Distributiven Dienste (z.B. Handel), die Gesellschaftsbezogenen Dienste, die Investitionsgüterindustrie, die Nahrungs- und Genußmittelindustrie sowie die Verbrauchsgüterindustrie. Arbeitsmarktregionen mit den höchsten Anteilen an Niedrigverdienern an den Beschäftigten sind die Regionen Kleve (32,8 vH), Lengerich (30,2 v.H), Holzminden-Höxter (29,6 vH), Euskirchen (29,1 vH), Minden (28,4 vH) und Mönchengladbach (28,4 vH).
3. Als einkommensarm gelten üblicherweise die Personen eines Haushalts, wenn sie über weniger als die Hälfte des durchschnittlich verfügbaren bedarfsgewichteten Haushaltseinkommens verfügen. Der Anteil der so definierten Einkommensarmen in allen Haushalten ging in Nordrhein-Westfalen im Zeitraum 1987 bis 1995 leicht zurück und liegt 1995 niedriger als im Bundesgebiet (11,9 gegenüber 12,5 vH). Ein anderes Bild ergibt sich, wenn man die Anteile von Personen mit niedrigen Haushaltseinkommen betrachtet (75 vH-Schwelle). Generell sind niedrigere Haushaltseinkommen in NRW stärker verbreietet als im alten Bundesgebiet (1995: 38,2 gegenüber 37,6 vH), obwohl in NRW der Anteil der Personen mit niedrigen Haushaltseinkommen leicht zurückgegangen, auf Bundesebene dagegen gestiegen ist.
4. Betrachtet man die Einkommensarmut (50 vH-Schwelle), waren Personen in Haushalten von Normalarbeitsbeschäftigten (unbefristet Vollzeit-Erwerbstätige mit vollem arbeits- und sozialrechtlichen Schutz) in Nordrhein-Westfalen ebenso wie auf Bundesebene in deutlich geringerem Ausmaß als die Bevölkerung in allen Haushalten von Einkommensarmut betroffen. Dennoch zeigt der Anteil armer Personen in Haushalten von Normalarbeitsbeschäftigten in NRW in Höhe von 9,2 vH (in allen Erwerbstätigenhaushalten sogar 10,1 vH), daß Armut nicht allein Problem von Nichterwerbstätigenhaushalten darstellt. Während auf Bundesebene die Armut in Haushalten von Normalarbeitsbeschäftigten zugenommen hat, ging sie in NRW zurück; sie lag jedoch 1995 auf Landesebene immer noch deutlich höher als im alten Bundesgebiet (9,2 gegenüber 7,8 vH).
5. Betrachtet man die 75 vH-Schwelle, waren Personen in Haushalten von Normalarbeitsbeschäftigten in NRW überdurchschnittlich häufig in einer solchen Niedrigeinkommensposition. Ihr Anteil wies im Land wie im Bund eine steigende Tendenz auf und lag 1995 in NRW mit 39,5 vH deutlich höher als im alten Bundesgebiet (34,2 vH). Dieser Befund ist um so brisanter, da es sich bei der Einkommenslage zwischen 51 und 75 vH um eine Situation des "prekären Wohlstands" handelt, bei der zwar ein Einkommensniveau oberhalb der 50 vH-Armutsschwelle erreicht wird, bei der jedoch z.B. durch das Eintreten kritischer Lebensereignisse eine hohe Gefahr des Abgleitens in die Armut besteht.
6. Am eindeutigsten und am stärksten schlägt ein niedriges Arbeitseinkommen in Haushalten mit einem alleinstehenden Haushaltsvorstand auf das Haushaltseinkommen durch. Dies zeigt sich an überdurchschnittlich hohen haushaltsbezogenen Armutsquoten bei einem niedrigen bzw. sehr niedrigen Verdienst. Sind zwei Arbeitseinkommen im Haushalt vorhanden, ist die Armutsgefahr am geringsten. Vergleichsweise hohe Armutsquoten sind dagegen bei Haushalten mit einem nicht erwerbstätigen Partner anzutreffen. Selbst wenn in solchen Haushalten ein mittlerer oder höherer Verdienst vorliegt, ist eine relativ hohe Armutsgefahr gegeben. Am höchsten ist das Armutsrisiko bei Familienhaushalten, in denen lediglich ein Verdienst vorhanden ist und bei Eineltern-Haushalten. Single- und Partner-Haushalte ohne Kinder weisen dagegen die niedrigste Armutsgefährdung auf.
7. Insgesamt zeigt sich, daß die individuelle Verdienstposition nur bedingt die gesamte Einkommenslage des Haushalts bestimmt. Ebenso von Bedeutung sind die unterschiedlichen Bedarfskonstellationen als Folge unterschiedlicher Größe und Zusammensetzung sowie die Anzahl der Verdienste im Haushalt. Dies darf jedoch nicht zum Anlaß genommen werden, die Verdiensthöhe als sozialpolitisch wenig bedeutsam zu bewerten. So ist die Höhe des individuellen Arbeitnehmerverdienstes bestimmend für die Höhe der Lohnersatzleistungen beim Eintreten allgemeiner Lebensrisiken. Daneben ist ein niedriger Verdienst zumeist mit einem erhöhten Beschäftigungsrisiko und damit mit der Gefahr einer instabilen Erwerbsbiographie verbunden. Hinzu kommt, daß die Risikokompensation im Haushaltszusammenhang keineswegs dauerhaft garantiert ist. Je mehr die individuellen Arbeitsmarktrisiken zunehmen und je stärker sich der Trend zu einer Individualisierung und Pluralisierung der Lebensformen fortsetzt, un so weniger kann die Risikoabsicherung im Haushaltskontext als selbstverständlich vorausgesetzt werden. Insofern kann beim Vorliegen eines niedrigen Areitnehmerverdienstes von einer Situation "latenter Armut" gesprochen werden.
8. Die Gegenüberstellung des gegenwärtigen Niveaus der Hilfe zum Lebensunterhalt im Rahmen des Bundessozialhilfegesetzes mit dem Haushaltseinkommen von Arbeitnehmern unterer Lohn- und Gehaltsgruppen für das Jahr 1996 hat ergeben, daß eine Verletzung des sog. Abstandsgebots derzeit nicht gegeben ist. Allerdings ist die heutige gesetzlich normierte Fassung des Abstandsgebots sachlich nicht zu rechtfertigen. Sollte es in Zukunft im Zuge der "Spreizung der Lohnstruktur" zu einem Rückgang der Haushaltseinkommen von Arbeitnehmern unterer Lohn- und Gehaltsgruppen kommen, darf die Aufrechterhaltung eines Abstands zum Sozialhilfeniveau nicht durch Absenkung der Sozialhilfe hergestellt werden, sondern muß durch eine bedarfsgerechte Ausgestaltung von Wohn- und Kindergeld sichergstellt werden. Die ergänzende Untersuchung der sog. "Armutsfälle" als Folge einer sehr weitgehenden Anrechnung von Erwerbseinkommen auf die Sozialhilfe hat ergeben, daß einer Verringerung des Anrechnungssatzes enge Grenzen gezogen sind, da sie mit steigenden Zahlen von Anspruchsberechtigten und einem entsprechenden Kostenanstieg verbunden wäre.
9. Eine Erörterung von strategischen Optionen zur Verringerung des Problems der Niedrigverdienste führt zu dem Ergebnis, daß dieses Ziel nur durch eine Kombination unterschiedlicher Maßnahmen erreicht werden kann: Dazu gehört die Verbesserung der Rahmenbedingungen für den Arbeitsmarkt durch den Einsatz beschäftigungs-, arbeitszeit- und arbeitsmarktpolitischer Instrumente, die Regulierung prekärer Beschäftigungsverhältnisse, die Erhaltung der Mindestlohnfunktion der Tariflöhne, die zielgruppenorientierte Subventionierung niedriger Löhne sowie ergänzende Reformen bei sozialpolitischen Transfers im Bereich von Kindergeld und Wohngeld und die Einführung einer bedarfsorientierten Grundsicherung. Demgegenüber wäre eine Kompensation niedriger Verdienste durch eine negative Einkommenssteuer (oder einen sog. Kombi-Lohn) mit gravierenden Mängeln und Risiken verbunden.
10. Die beschäftigungspolitisch motivierte Forderung nach einer Ausweitung eines Niedriglohnsektors ist zum einen aus sozialpolitischer Sicht zurückzuweisen, da sie die Gefahr einer "Armut bei Erwerbstätigkeit" drastisch erhöhen würde. Zum anderen spricht vieles dafür, daß eine Strategie der Beschäftigungsexpansion im Dienstleistungssektor zu Niedriglohnbedingungen zu einem Niedergang bei der volkswirtschaftlichten Produktivitäts und Einkommensentwicklung führen würde. Zudem wäre im industriellen Bereich die Gefahr groß, daß es zu Substitutions- und Mitnahmeprozessen statt zu einer Beschäftigungsexpansion käme. Demgegenüber könnte das Ergebnis im Dienstleistungssektor in einer "Refeudalisierung" gesellschaftlicher Arbeit liegen. Insgesamt stehen daher die ökonomischen und sozialpolitischen Kosten in keinem Verhältnis zum eher fraglichen beschäftigungspolitischen Ertrag. Eine Arbeits- und Sozialpolitik, die sich als Gesellschaftspolitik versteht, sollte daher nicht nur alles daran setzen, allen Erwerbsfähigen den Zugang zum Arbeitsmarkt zu eröffnen, sondern auch darauf achten, daß die Teilnahme am Beschäftigungssystem mit einer gesicherten Existenz verbunden ist.
Az.: III 806 - 4