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Hauptausschuss 2024
Heft April 2018
Vollverzinsung im Steuerrecht
Der Bundesfinanzhof hat entschieden, dass die Höhe der Nachforderungszinsen (§ 233a Abs. 1 Satz 1 i. V. m. § 238 Abs. 1 Satz 1 AO) für in das Jahr 2013 fallende Verzinsungszeiträume weder gegen den Gleichheitssatz noch gegen das Übermaßverbot verstößt. (Orientierungssatz)
BFH, Urteil vom 9. November 2017
- Az.: III R 10/16 -
Mit dem Urteil wird die Revision der Kläger gegen das Urteil des Finanzgerichts Düsseldorf vom 10. März 2016 (16 K 2976/14 AO) als unbegründet zurückgewiesen. Die Voraussetzungen für eine Vorlage an das Bundesverfassungsgericht liegen laut Feststellung des BFH nicht vor.
Eine Verletzung des allgemeinen Gleichheitssatzes wird mit Verweis auf die bisherige Rechtsprechung (Typisierungs- und Vereinfachungserfordernisse etc.) im betreffenden Fall nicht angenommen. Unerheblich nach § 233a AO sei in diesem Zusammenhang, dass der Kläger im Streitfall aufgrund der Bereitstellung des zu erwartenden Nachzahlungsbetrages auf einem gesonderten Bankkonto tatsächlich keinen oder nur einen geringeren Zinsvorteil erlangt habe. Aus der Höhe des normierten Zinssatzes lasse sich ebenfalls keine Ungleichbehandlung der Kläger im Sinne des Gleichheitssatzes herleiten, da innerhalb der Gruppe der zinspflichtigen Steuerpflichtigen bei allen Betroffenen der gleiche Zinssatz zugrunde gelegt werde (da bei der Gruppe der Steuerpflichtigen, deren Steuer in der 15-monatigen Karenzzeit richtig festgesetzt wird, bereits dem Grunde nach keine Zinspflicht nach § 233a AO bestehe). Die hierzu in der Literatur vertretenen Auffassungen veranlassten den Senat zu keiner abweichenden Beurteilung.
Ferner liege in Bezug auf die Zinshöhe im Streitfall auch kein Verstoß gegen den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz vor. Unter Berücksichtigung eines einschlägigen BVerfG-Urteils aus dem Jahr 2009 und der Entwicklung des allgemeinen Zinsniveaus im Jahr 2013 hält der BFH den vorgesehenen Zinssatz von 0,5 Prozent für jeden Monat (6 % p. a.) für verfassungsgemäß. Bei der Feststellung der Bandbreite der Verzinsung sei zu beachten, dass mit Blick auf die im Streitzeitraum nach § 233a Abs. 2 AO nicht mehr beschränkte Verzinsungsdauer kein Grund bestehe, allein kurzfristige Anlage- oder Finanzierungsformen als Referenz heranzuziehen.
Weiter seien bereits bestehende Einlagen und Kredite nicht außer Betracht zu lassen, da der Steuerpflichtige unter Umständen auch die Möglichkeit hat, bestehende Einlagen vorzeitig aufzulösen. Nicht festgesetzte Steueransprüche gegenüber dem Steuerpflichtigen seien zudem regelmäßig unbesichert, weshalb auch die zinssteigernde Wirkung fehlender Sicherheiten nicht vernachlässigt werden dürfe. Unter Berücksichtigung der diversen Finanzierungsalternativen ergebe sich für 2013 für die Zinsen eine Bandbreite von 0,15 Prozent bis 14,70 Prozent (die Zinssätze hat der BFH dem Monatsbericht der Deutschen Bundesbank vom März 2014 entnommen).
Zu berücksichtigen sei im konkreten Fall ferner, dass im Unternehmensbereich vorhandenes Kapital auch für Investitionen in das eigene Unternehmen genutzt werde und dies üblicherweise vor allem dann geschehe, wenn sich daraus eine höhere Rendite erzielen lasse als im Bereich der variabel oder festverzinsten Einlagen bei Geldinstituten. Folgerichtig hat der BFH sich nicht der Auffassung der Kläger angeschlossen, dass aufgrund des seit 2011 unter 1 Prozent gefallenen Leitzinses der Europäischen Zentralbank der in § 238 Abs. 1 AO vorgesehene Zinssatz seinen Realitätsbezug verloren hat. Insbesondere sei auch nicht zu erkennen, dass sich die gesetzliche Festlegung des anzuwendenden Zinssatzes extrem dem oberen Bandbreitenbereich angenähert hätte (auch ohne Einbeziehung der hohen Verzinsung von Kreditkartenkrediten an private Haushalte).
Der BFH hält ferner fest, dass § 238 Abs. 1 Satz 1 AO auch nicht bezüglich der veränderten Möglichkeiten des EDV-Einsatzes gegen den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz verstößt, selbst wenn die heutige EDV-Technik einen variablen Zinssatz bei der Zinsfestsetzung berücksichtigen könnte. Eine Mehrzahl von Zinssätzen sei im Übrigen ungeeignet, den vom Gesetzgeber legitimerweise verfolgten Vereinfachungszweck zu erreichen, nämlich gerade nicht nach den individuellen Liquiditätsvor- und -nachteilen zu fragen. Einen Anspruch auf einen Erlass der Zinsen hat der BFH ebenfalls verneint, da es nicht auf die Ursachen einer späten oder verzögerten Steuerfestsetzung ankomme.
Frist zur Erhebung von Erschließungsbeiträgen
Die Erhebung eines Erschließungsbeitrags verstößt nach Ablauf einer Frist von 30 Jahren gegen den Grundsatz von Treu und Glauben, wenn sich die Vorteilslage durch die technische Fertigstellung der Straße bereits verwirklicht hat. (Orientierungssatz)
OVG NRW, Urteil vom 24. November 2017
- Az.: 15 A 1812/16 -
Die beklagte Stadt hatte entlang einer Straße in 1983 erstmals eine Straßenbeleuchtung errichtet. Die Fahrbahn wurde im Jahr 1984 ausgebaut. Gleichzeitig wurde die Straßenentwässerung in Form eines Regenwasserkanals mit angeschlossenen Sinkkästen hergestellt. Die beiderseitigen Gehwege wurden in Asphaltbeton-Bauweise ausgebaut und mit Randeinfassungen zu den angrenzenden Grundstücken versehen.
Es fehlten zu diesem Zeitpunkt aber noch das Eigentum der Stadt an einzelnen Gehwegflächen sowie einzelne Randeinfassungen zwischen dem Gehweg und den jeweiligen Anliegergrundstücken. Der Rat der Stadt beschloss 2011 den Erlass einer Abweichungssatzung, nach der die Erschließungsanlage abweichend von den in der Erschließungsbeitragssatzung (EBS) der Stadt bestimmten Herstellungsmerkmalen als endgültig hergestellt gelten solle. Daraufhin wurde ein Anlieger per Bescheid in 2014 zur Zahlung eines Erschließungsbeitrags aufgefordert. Hiergegen erhob er Klage.
Das OVG kommt zu dem Ergebnis, dass die Erhebung des Erschließungsbeitrags gegen den allgemeinen Grundsatz von Treu und Glauben verstoße, der auch im Abgabenrecht Berücksichtigung findet. Die Erhebung von Erschließungsbeiträgen widerspreche dem Gebot der Belastungsklarheit- und -vorhersehbarkeit, das Ausdruck von Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Gebot der Rechtssicherheit (Art. 20 Abs. 3 GG) ist.
Der Senat verweist auf eine Grundsatzentscheidung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG), wonach Einzelne gegenüber dem Staat die Erwartung hegen dürften, sich nicht mehr einer Geldforderung ausgesetzt zu sehen, wenn der berechtigte Hoheitsträger über einen längeren Zeitraum seine entsprechende Befugnis nicht wahrgenommen habe. Der Grundsatz der Rechtssicherheit gebiete es daher auch bei der Erhebung von Beiträgen, dass ein Vorteilsempfänger in zumutbarer Zeit Klarheit darüber gewinnen könne, ob und in welchem Umfang er die erlangten Vorteile durch Beiträge ausgleichen müsse.
Im Laufe der Zeit sei eine solche Unklarheit der Bürgerin oder dem Bürger immer weniger zuzumuten (BVerfGE 133, 143). Das Gebot der Belastungsklarheit und -vorhersehbarkeit finde nach Auffassung des OVG Anwendung auf alle diesbezüglichen abzugeltenden Vorteilslagen, bei denen die entsprechenden Beiträge wegen Fehlens anderweitiger Voraussetzungen nicht entstehen und daher in der Folge aufgrund der anzuwendenden Verjährungsvorschriften auch nicht verjähren können. Auf eine Unterscheidung zwischen Anschluss- und Erschließungsbeiträgen komme es insoweit nicht an.
Zur Bestimmung des Zeitraums, der nach Eintritt der tatsächlichen Vorteilslage verstrichen sein muss, bevor von einer Treuwidrigkeit auszugehen ist, sei auf die Wertungen allgemeiner Verjährungsvorschriften zurückzugreifen. So beträgt nach § 53 Abs. 2 Satz 1 VwVfG NRW die Verjährungsfrist bei einem unanfechtbaren Verwaltungsakt, der zur Feststellung oder Durchsetzung des Anspruchs eines öffentlich-rechtlichen Rechtsträgers erlassen wird, 30 Jahre. Diese Wertung könne, auch wenn § 53 VwVfG NRW nicht direkt anwendbar sei, auch hier herangezogen werden. Maßgeblich sei vorliegend die Erfüllung der technischen Herstellungsmerkmale, die jedenfalls im Zeitpunkt der Abnahme der letzten Bauleistung im Jahr 1984 eingetreten sei.
Steuerkraftermittlung im GFG 2015
Der Verfassungsgerichtshof für das Land Nordrhein-Westfalen in Münster hat die Verfassungsbeschwerden der Städte Blomberg und Münster und der Gemeinde Hellenthal gegen § 9 Abs. 1 des Gemeindefinanzierungsgesetzes 2015 (GFG 2015) zurückgewiesen. Dass nach dieser Vorschrift die Ausgleichsbeträge nach dem Einheitslastenabrechnungsgesetz bei der Ermittlung der Steuerkraft der Gemeinden berücksichtigt würden, sei verfassungsgemäß.
VerfGH NRW, Urteil vom 27. Februar 2018
- Az.: VerfGH 17/15 -
Die Verfassungsbeschwerden betrafen die Berechnung der Steuerkraftmesszahl, die mit über das „ob“ und die Höhe der einer Gemeinde zukommenden Schlüsselzuweisungen entscheidet. Gemäß dem GFG 2015 werden die Beträge, die Städten und Gemeinden nach dem Einheitslastenabrechnungsgesetz als Ausgleich dafür gezahlt worden sind, dass sie in den Jahren 2009 bis 2012 erhöhte Gewerbesteuerumlagen gezahlt haben, bei der Bestimmung ihrer Steuerkraft (erhöhend) berücksichtigt.
Dadurch wurden die Schlüsselzuweisungen, die die Beschwerdeführer im Jahr 2015 erhalten haben, verringert. Die Beschwerdeführerinnen hatten sich darauf berufen, dass die Berücksichtigung der Zahlungen nach dem Einheitslastenabrechnungsgesetz die Systematik der Steuerkrafterfassung im Gemeindefinanzierungsgesetz durchbreche und das interkommunale Gleichbehandlungsgebot verletzt werde.
Der Verfassungsgerichtshof entschied demgegenüber, dass die angegriffene Regelung des § 9 Abs. 1 GFG 2015 nicht das verfassungsrechtliche Recht der Beschwerdeführer auf Selbstverwaltung verletze. Die Berücksichtigung der Ausgleichsbeträge nach dem Einheitslastenabrechnungsgesetz bei der Ermittlung der Steuerkraft sei von dem weiten Gestaltungsspielraum umfasst, der dem Gesetzgeber bei der Regelung des kommunalen Finanzausgleichs zukomme. Eine Systemwidrigkeit sei dabei nicht zu erkennen. Durch den kommunalen Finanzausgleich werde die angemessene Finanzausstattung einer Gemeinde in einem bestimmten Jahr gewährleistet.
Der Gesetzgeber habe somit berücksichtigen dürfen, dass die Ausgleichsbeträge den Gemeinden unstreitig im maßgeblichen Referenzzeitraum für das Haushaltsjahr 2015 zugeflossen seien. Der Gesetzgeber habe dabei auch die von ihm für die Bemessung der Steuerkraft gewählten Maßstäbe beachtet. Die Ausgleichsbeträge wiesen eine hinreichend große Nähe zur seit langem berücksichtigten Gewerbesteuer auf. Sie müssten auch nicht aus anderen Gründen, etwa mit Blick auf die kommunale Gestaltungsfreiheit oder mangels Aussagekraft für die finanzielle Situation der Gemeinden, unberücksichtigt bleiben.
Die Berücksichtigung der Ausgleichsbeträge bei der Bemessung der Steuerkraft verstoße schließlich auch nicht gegen das Gebot interkommunaler Gleichbehandlung - insbesondere nicht deshalb, weil bei den Beschwerdeführern die Anrechnung zu einer Reduzierung der Schlüsselzuweisungen geführt habe, was bei Gemeinden, die im Jahr 2015 keine Schlüsselzuweisungen erhielten, nicht habe eintreten können.
Eine Ungleichbehandlung liege auch nicht deshalb vor, weil dieser Nachteil bei anderen Gemeinden durch erhöhte Schlüsselzuweisungen in den Jahren 2009 bis 2012 ausgeglichen werde, bei den Beschwerdeführerinnen jedoch nicht, da sie in den Jahren 2009 bis 2012 keine Schlüsselzuweisungen erhalten hätten. Die Perspektive des kommunalen Finanzausgleichs sei rein jahresbezogen. Damit komme es auf Vor- oder Nachteile in anderen Jahren nicht an. Eine jahresübergreifende Abrechnung oder ein jahresübergreifender Ausgleich finde nicht statt.