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Heft Juli-August 2005
Grundsatzurteil zur asylrechtsrelevanten Lage in der Türkei
Kurden sind in der Türkei nach wie vor keiner an ihre Volkszugehörigkeit anknüpfenden Gruppenverfolgung ausgesetzt (nichtamtlicher Leitsatz).
OVG, Urteil vom 19. April 2005
- Az.: 8 A 273/04.A -
Der 8. Senat des Oberverwaltungsgerichts hat entschieden, dass Kurden in der Türkei nach wie vor keiner an ihre Volkszugehörigkeit anknüpfenden Gruppenverfolgung ausgesetzt sind. Das Gericht hat sich umfassend mit der aktuellen Lage in der Türkei befasst und dabei insbesondere die umfangreichen Reformpakete der Jahre 2002 bis 2004 gewürdigt, die einer Annäherung der Türkei an die EU dienen sollen.
In Fortführung und Modifizierung seiner bisherigen Rechtsprechung hat der Senat ausgeführt:
Die Menschenrechtslage in der Türkei habe aufgrund der Reformpakete wichtige Verbesserungen erfahren. Politische Verfolgung finde indessen in der Türkei trotz der Reformen weiterhin statt; Folter werde allerdings seltener als früher und vorwiegend mit anderen, weniger leicht nachweisbaren Methoden praktiziert. Von politischer Verfolgung seien in besonderem Maße Politiker, Journalisten, Menschenrechtsaktivisten und andere Personen bedroht, die sich für die Interessen der kurdischen Bevölkerung einsetzten und deshalb strafrechtlichen Vorwürfen ausgesetzt seien.
Es sei auch nicht auszuschließen, dass türkische Sicherheitskräfte im Einzelfall gegenüber Angehörigen gesuchter Personen zu asylerheblichen Maßnahmen greifen (Sippenhaft); eine solche Sippenhaft drohe Angehörigen aber - anders als früher - nicht mehr mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit.
Allein wegen ihrer Volkszugehörigkeit müssten Kurden eine politische Verfolgung nicht befürchten. Dies gelte auch nach Wiederaufflammen der bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen der PKK-Nachfolgeorganisation KONGRA-GEL und türkischen Sicherheitskräften im Südosten der Türkei im Sommer 2004.
Politische Verfolgung hätten auch nicht Angehörige der alevitischen Religionsgemeinschaft zu befürchten oder Asylbewerber, die ihren Wehrdienst noch nicht abgeleistet hätten. Auch nach einer Abschiebung in die Türkei drohe abgelehnten Asylbewerbern nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine menschenrechtswidrige Behandlung.
Das OVG hat die Revision zum Bundesverwaltungsgericht nicht zugelassen.
Kein Unterhaltsvorschuss bei Lebenspartnerschaft
Kinder, die bei einem Elternteil leben, der eine Lebenspartnerschaft führt, haben keinen Anspruch auf Unterhaltsleistungen nach dem Unterhaltsvorschussgesetz (nichtamtlicher Leitsatz).
BVerwG, Urteil vom 2. Juni 2005
- Az.: 5 C 24.04 -
Die minderjährigen Klägerinnen, deren Väter unbekannt sind und die bei ihrer Mutter leben, begehren vom beklagten Landkreis Leistungen nach dem Unterhaltsvorschussgesetz. Nach diesem Gesetz hätten die Klägerinnen dann einen Leistungsanspruch, wenn sie bei einem ihrer Elternteile leben, der ledig, verwitwet oder geschieden ist. Die Beteiligten streiten darüber, ob die Mutter der Klägerinnen auch nach Eingehen einer eingetragenen Lebenspartnerschaft weiterhin „ledig“ im Sinne des Gesetzes ist.
Das Bundesverwaltungsgericht hat entschieden, dass Kinder keinen Anspruch auf Unterhaltsleistungen nach dem Unterhaltsvorschussgesetz haben, die bei einem Elternteil leben, der eine Lebenspartnerschaft führt. Denn ein Elternteil, der eine Lebenspartnerschaft führt, ist weder ledig, verwitwet oder geschieden noch lebt er von seinem Ehegatten dauernd getrennt, wie es für einen Anspruch nach dem Unterhaltsvorschussgesetz Voraussetzung ist.
Dass die Lebenspartnerschaft nicht in jeder Hinsicht einer Ehe gleichgestellt ist, gebietet aus der Sicht des Zweckes des Unterhaltsvorschussgesetzes, die prekäre Lage Alleinerziehender abzumildern, nicht, diesen neuen Personenstand dem Personenstand "ledig" gleichzustellen.
Kontenabrufverfahren in Kraft
Per Beschluss hat das Bundesverfassungsgericht in einem einstweiligen Rechtsschutzverfahren den Erlass einer einstweiligen Anordnung, mit dem das Inkrafttreten des Gesetzes zum 01.04.2005 hätte verhindert werden können, abgelehnt. Das so genannte Kontenabrufverfahren ist nach diesem Beschluss planmäßig zum 01.04.2005 in Kraft getreten. Seitdem haben auch Kommunen die Möglichkeit, bestimmte Stammdaten der Antragsteller abzufragen.
BVerfG, Beschluss vom 23. März 2005
- Az.: 1 BvR 2357/04 und 1 BvQ 2/05 -
Grundlage für diese Ausweitung des Kontenabrufverfahrens ist das vom Gesetzgeber am 23. Dezember 2003 verabschiedete „Gesetz zur Förderung der Steuerehrlichkeit“ (Steueramnestiegesetz). Dadurch wurden in § 93 der Abgabenordnung die neuen Absätze 7 und 8 eingefügt, die Behörden und Gerichten die Möglichkeit eröffnen, über das Bundesamt für Finanzen (BfF) Konteninformationen aus den nach § 24 c Kreditwesengesetz (KWG) zu führenden Kontenzentraldateien abzurufen. Bei den Kontoinformationen handelt es sich um Stammdaten der Bankkunden, wie Name, Geburtsdatum, Anschrift sowie Zahl der Konten und die zuständigen Kreditinstitute. Nicht dagegen kann der Kontostand bzw. der Stand eines Depots abgefragt werden. Dies kann erst dann erfolgen, wenn sich auf Grund der Stammdaten der Verdacht einer Straftat ergibt.
In dem einstweiligen Rechtsschutzverfahren lehnte das BVerfG den Erlass einer einstweiligen Anordnung, mit dem das Inkrafttreten des Gesetzes zum 01.04.2005 hätte verhindert werden können, ab. Die Antragsteller sind der Auffassung, dass das Gesetz verfassungswidrig sei, weil es unter anderem gegen das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung (Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG) verstoße. Die Antragsteller rügen insbesondere die Regelung in § 93 Abs. 8 Abgabenordnung, wonach für die Inanspruchnahme des Kontenabrufverfahrens lediglich erforderlich ist, dass auf der Grundlage eines Gesetzes zu entscheiden ist, das an die „Begriffe des Einkommensteuergesetzes“ anknüpft. Diese Regelung sei zu unbestimmt und unverhältnismäßig. Weiterhin rügen sie, dass für den Betroffenen keine Rechtsschutzmöglichkeit gegen den Kontenabruf bestehe, da er von dem Verfahren nicht in Kenntnis gesetzt würde.
Seine ablehnende Entscheidung begründet das BVerfG damit, dass die von den Antragstellern gerügten Rechtsverletzungen durch einen Anwendungserlass des Bundesministeriums der Finanzen (BMF) vom 10.03.2005 (Gz. IV A 4 S 0062 – 1/05) deutlich abgeschwächt sind.
In dem Anwendungserlass werden u. a. die Schutzvorkehrungen für die Betroffenen konkretisiert. So wird darin betont, dass ein Abruf der Kontenstammdaten nur anlassbezogen und zielgerichtet und unter Bezugnahme auf eindeutig bestimmte Personen zulässig ist. Der Erlass schreibt ferner vor, dass den Betroffenen zunächst Gelegenheit zu geben ist, selbst Auskunft über ihre Konten und Depots zu erteilen und entsprechende Unterlagen vorzulegen, es sei denn, der Ermittlungszweck würde dadurch gefährdet.
In seiner Entscheidung betont das Gericht außerdem, dass durch die im Anwendungserlass vorgesehenen Informationspflichten gegenüber den Betroffenen sichergestellt wird, dass diesen nicht die Möglichkeit der Inanspruchnahme eines effektiven Rechtschutzes abgeschnitten wird. Nach den weiteren Ausführungen des Gerichts ist es als ausreichend anzusehen, dass der Anwendungserlass des BMF nur die Finanzbehörden und das Bundesamt für Finanzen und nicht die Behörden bindet, die die Auskunft ersuchen. Die Beachtung der Bestimmungen des Erlasses sei dadurch sichergestellt, dass diese Behörden ihr Ersuchen an Finanzbehörden als „ersuchte“ Behörden i. S. d. § 93 Abs. 8 AO richten müssen, die ihrerseits an den Anwendungserlass gebunden sind. Weiterhin stellt das Gericht fest, dass die in § 93 Abs. 8 AO vorgesehene Anknüpfung eines anderen Gesetzes an „Begriffe des Einkommensteuergesetzes“ für einen Rückgriff auf den Kontenabruf auch durch den Anwendungserlass und die darin unter Bezugnahme auf entsprechende Gesetze genannten Anwendungsbereiche so weit eingegrenzt werden, dass eine einstweilige Anordnung nicht erlassen werden muss. Im Ergebnis kommt das Gericht deshalb innerhalb der im einstweiligen Rechtschutzverfahren vorzunehmenden Folgenabwägung zu dem Ergebnis, dass die befürchteten Nachteile für die Betroffenen nicht so schwerwiegend seien, dass es den Erlass einer einstweiligen Anordnung rechtfertigen würde.
Gleichwohl ist zu betonen, dass eine Entscheidung des Gerichts in dem laufenden Verfassungsbeschwerdeverfahren in der Hauptsache offen ist. Insoweit sind insbesondere die Ausführungen des Gerichts beachtenswert, in denen es betont, dass in dem Verfassungsbeschwerdeverfahren u. a. zu prüfen sein wird, ob die angegriffenen Regelungen den Anforderungen der Gesetzesbestimmtheit und der Verhältnismäßigkeit gerecht werden. Hierbei ist zu bedenken, dass das Gericht in der Hauptsache die Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes prüfen wird und dass diese bekanntlich nicht im Erlasswege geheilt werden kann.
© StGB NRW 2005