Heft Oktober 2020

 

Musterverfahren Wettbürosteuer

Das OVG NRW hat in drei Musterverfahren entschieden, dass die Stadt Dortmund gegenüber Wettbürobetreibern rechtmäßig Wettbürosteuern festgesetzt hat. Wegen grundsätzlicher Bedeutung ist die Revision zum Bundesverwaltungsgericht zugelassen worden.

OVG NRW, Urteile vom 27.08.2020
- Az.: 14 A 218/19, 14 A 2474/19 und 14 A 2275/19 -

Mit der Wettbürosteuer wird der Aufwand für Sportwetten in Wettbüros besteuert, also in Einrichtungen, die neben der Annahme von Wettscheinen auch das Mitverfolgen von Wettereignissen auf Bildschirmen ermöglichen. Schon mit Urteilen vom 13. April 2016 - 14 A 1599/15 u.a. - hatte das Oberverwaltungsgericht diese neue kommunale Steuer als zulässig bewertet. Diese Auffassung hat das Bundesverwaltungsgericht mit Revisionsurteil vom 29. Juni 2017 - 9 C 7.16 - weitgehend geteilt, jedoch den Steuermaßstab nach der Fläche des Wettbüros beanstandet, weil der Wetteinsatz der sachgerechteste Maßstab sei. Infolge dieses Urteils legen einige Kommunen statt des bisherigen Flächenmaßstabs nunmehr den sogenannten Einsatzmaßstab zugrunde. Beim Oberverwaltungsgericht ist im Jahr 2019 eine Vielzahl von Verfahren eingegangen, die diesen neuen Maßstab zum Gegenstand haben. Auch die Stadt Dortmund überarbeitete ihre Wettbürosteuersatzung und erließ auf dieser Basis neue Steuerbescheide. Die dagegen angestrengten Klagen wies das Verwaltungsgericht Gelsenkirchen ab. Mit seinen o.g. Urteilen wies auch das Oberverwaltungsgericht die dagegen eingelegten Berufungen zurück.

Entgegen der Auffassung der Klägerseite dürften nicht nur Live-Wetten, sondern auch sogenannte Pre-Match-Wetten besteuert werden, also Wetten auf Sportereignisse, die im Zeitpunkt der Wette noch gar nicht begonnen hätten und damit auch noch nicht mitverfolgt werden könnten. Für eine solche Beschränkung des Steuergegenstands gebe die Satzung nichts her. Es liege im weitreichenden Gestaltungsspielraum der Gemeinde, welche Steuergegenstände sie besteuern wolle. Eine Differenzierung zwischen Live- und Pre-Match-Wetten bei der Besteuerung des Vergnügungsaufwands für Wetten in einem Wettbüro sei nicht erforderlich. Nach Art. 105 Abs. 2a Satz 1 Grundgesetz dürfe die Wettbürosteuer als örtliche Aufwandsteuer allerdings nicht bundesgesetzlich geregelten Steuern gleichartig sein. Es sei nicht zu verkennen, dass die Wettbürosteuer in vielen Merkmalen der bundesrechtlichen Renn- und Sportwettensteuer gleiche, vor allem nachdem durch das genannte Urteil des Bundesverwaltungsgerichts diese Steuern nunmehr auch im Steuermaßstab und der Erhebungstechnik angeglichen seien. Dennoch seien die Wettbürosteuer und die Renn- und Sportwettensteuer nicht gleichartig, weil die Wettbürosteuer nur den besonderen Vertriebsweg über den Wetteifer anstachelnde Wettbüros erfasse, nicht aber den über einfache Wettannahme- und Wettvermittlungsstellen ohne Mitverfolgungsmöglichkeit und auch nicht das Onlinewettgeschäft. Es gebe also noch weitere nicht von der Wettbürosteuer erfasste relevante Vertriebswege.

Das Oberverwaltungsgericht hat wegen der grundsätzlichen Frage, ob die beiden Steuern auch nunmehr noch als nicht gleichartig zu beurteilen sind, die Revision zum Bundesverwaltungsgericht zugelassen.

 

Besteuerung von Internet-Wetten außerhalb von Wettbüros

Das OVG Münster hat sich in Zusammenhang mit der Erhebung einer Wettbürosteuer außerdem zu Wetteinsätzen für Wetten geäußert, die außerhalb eines Wettbüros über das Internet abgegeben werden, deren Abwicklung aber über ein Kundenkonto mit dem Wettbüro verknüpft ist.

OVG Münster, Urteil vom 17.01.2020
- Az.: 14 A 1843/19 -

Eine kommunale Wettbürosteuer - so das Gericht - dürfe nur auf Wetteinsätze erhoben werden, die vor Ort im Wettbüro abgegeben wurden. Außerhalb des Wettbüros über das Internet abgegebene Wetteinsätze unterlägen auch dann nicht der Wettbürosteuer, wenn der Wettbürobetreiber für diese Wetteinsätze infolge der Nutzung eines von ihm angelegten Kundenkontos eine Vermittlungsprovision erhält.

Nach der streitgegenständlichen Wettbürosteuer-Satzung war Bemessungsgrundlage der Wetteinsatz. Der Wetteinsatz ist die Summe aller Aufwendungen, die von Wettkunden aufgebracht werden müssen, um Wetteinsätze über ein Wettbüro im Sinne des § 2 abzugeben. Die Satzung bestimmt weiter, dass der Besteuerung das Vermitteln oder Veranstalten von Pferde- und Sportwetten in Einrichtungen unterliegen, die neben der Annahme von Wettscheinen - auch an Terminals o.ä. - auch das Mitverfolgen von Wettereignissen ermöglichen (Wettbüros).

In der OVG-Entscheidung heißt es weiter: Bei den von Wettkunden mittels Kundenkarten außerhalb des Wettbüros über das Internet oder im Wettbüro über Smartphone-Apps abgegebenen Wetten sei schon fraglich, ob eine Vermittlungsleistung des Wettbürobetreibers im Sinne der Satzung vorliege. Selbst wenn man den Wortlaut der Satzung aber dahingehend verstehen wolle, dass über Kundenkarten verbuchte Wetteinsätze, die außerhalb des Wettbüros getätigt werden, „über ein Wettbüro“ abgegeben wurden, so müsste die Vorschrift mit Blick auf den zur Eröffnung der Besteuerungskompetenz der Beklagten gemäß Art. 105 Abs. 2a Satz 1 GG erforderlichen örtlichen Bezug des besteuerten Vergnügens dahingehend verfassungskonform ausgelegt werden, dass nur im Wettbüro vermittelte Wetten besteuert werden. Da eine Gesamtvergnügungsveranstaltung - das Wetten in einem Wettbüro - und nicht das bloße Wetten Gegenstand der Besteuerung sei, scheide die Einbeziehung von Wetteinsätzen in die Bemessungsgrundlage aus, die zwar mittels eines Kundenkontos, aber online außerhalb des Wettbüros abgegeben werden. Denn dem Wettkunden fehle in diesem Fall die im Wettbüro eröffnete Möglichkeit, Wettereignisse mitzuverfolgen.

 

Kreisumlage im Landkreis Kaiserslautern

Die Beanstandung des Haushalts des Landkreises Kaiserslautern für das Jahr 2016 durch die Kommunalaufsicht des Landes Rheinland-Pfalz und die von ihr festgesetzte Erhöhung der Kreisumlage sind rechtswidrig, weil das Land dadurch nach Auffassung des Oberverwaltungsgerichts (OVG) Koblenz unzulässig in die verfassungsrechtlich geschützte finanzielle Mindestausstattung von mehr als einem Viertel der kreisangehörigen Gemeinden eingriffen hat.

OVG Koblenz, Urteil vom 17.07.2020
- Az.: 10 A 11208/18.OVG -

Wegen eines trotz Verbesserungen gegenüber dem Vorjahr weiterhin unausgeglichenen Haushaltes des Landkreises Kaiserslautern und seiner bilanziellen Überschuldung beanstandete die Kommunalaufsicht des beklagten Landes dessen Haushalt für das Haushaltsjahr 2016 und forderte ihn zur Reduzierung des Fehlbetrages um zwei Millionen Euro durch Erhöhung des Umlagesatzes der Kreisumlage auf. Der Landkreis hielt dies für rechtswidrig, weil er seine Kräfte größtmöglich angespannt habe. Vielmehr sei die Finanzausstattung durch das Land zu niedrig. Die geforderte Erhöhung des Umlagesatzes lehnte er mit Blick auf die angespannte finanzielle Lage zumindest einiger kreisangehöriger Gemeinden ab. Daraufhin erhöhte die Kommunalaufsicht den Umlagesatz im Wege der Ersatzvornahme um knapp zwei Prozentpunkte. Gegen diese kommunalaufsichtlichen Maßnahmen erhob der Kreis Klage, die das Verwaltungsgericht abwies. Auf die Berufung des Klägers gab das OVG der Klage hingegen statt und hob die angegriffenen kommunalaufsichtlichen Maßnahmen auf.

Die Beanstandung des Haushalts des Klägers einschließlich der geforderten Reduzierung des Fehlbetrags und die im Wege der Ersatzvornahme festgesetzte Erhöhung der Kreisumlage durch die Kommunalaufsicht des beklagten Landes seien rechtswidrig. Die Kommunalaufsicht könne Beschlüsse des Kreistags beanstanden, die das bestehende Recht verletzten. Der vom Kreistag des Klägers beschlossene Haushalt für das Jahr 2016 habe zwar objektiv gegen die Pflicht zum Haushaltsausgleich und das Verbot bilanzieller Überschuldung verstoßen. Wenn ein vollständiger Haushaltsausgleich außerhalb des Möglichen liege - wie zwischen den Beteiligten unstreitig hier -, so bestehe die Verpflichtung, den Ausgleich mit allen Mitteln anzustreben. Die Beanstandung sei jedoch ermessensfehlerhaft. Für die Rechtmäßigkeit der Beanstandung sei es allerdings vorliegend rechtlich ohne Belang und könne daher offenbleiben, ob das beklagte Land seiner verfassungsrechtlichen Verpflichtung nachgekommen sei, für eine angemessene Finanzausstattung der Landkreise zu sorgen. Dies gelte jedenfalls dann, wenn - wie hier - außer Streit stehe, dass der Beklagte seinen einfachgesetzlichen Verpflichtungen zur Finanzierung des Klägers nachgekommen sei. Die ausgesprochene Beanstandung erweise sich vielmehr deswegen als unverhältnismäßig, weil dem Kläger auch bei größtmöglicher Anspannung seiner Kräfte keine ausreichenden, insbesondere mit Blick auf die verfassungsrechtlich geschützten Belange seiner kreisangehörigen Gemeinden zulässigen Handlungsmöglichkeiten zur Verfügung gestanden hätten, um sein Haushaltsdefizit spürbar, d.h. mehr als nur geringfügig, zu reduzieren. Nicht ausgeschöpfte konkrete Einsparpotenziale von nennenswertem Umfang seien nicht erkennbar und auch vom Beklagten nicht präzisiert worden. Die dann allein verbleibende Erhöhung der Kreisumlage habe indes vom Beklagten nicht angeordnet werden dürfen, weil sie in die verfassungsrechtlich geschützte finanzielle Mindestausstattung von mindestens ca. einem Viertel der kreisangehörigen Gemeinden eingreife. Bei der Beantwortung der Frage, ob die Erhöhung einer Kreisumlage allein oder im Zusammenwirken mit anderen Umlagen dauerhaft gegen den verfassungsrechtlichen Anspruch auf finanzielle Mindestausstattung der umlagepflichtigen Gemeinden verstoße, sei maßgeblich auf die Liquiditätskreditbelastung innerhalb eines Zehnjahreszeitraums abzustellen. Sonstige Finanzkennzahlen, insbesondere die „freie Finanzspitze“ oder die Eigenkapitalhöhe bzw. Kapitalrücklage, seien entgegen der Annahme der Vorinstanz insoweit weniger oder kaum aussagekräftig. Die im Eigenkapital bilanzierten Vermögenswerte, z.B. Friedhöfe, Gemeindestraßen und sonstige kommunale Einrichtungen, seien nämlich überwiegend nicht veräußerbar.

Liquiditätskredite sollten von Gesetzes wegen lediglich den verzögerten Eingang von Deckungsmitteln überbrücken und dürften ausschließlich zu Zwecken der Kassenverstärkung vorübergehend genutzt werden. Sie stellten insbesondere kein Deckungsmittel zur dauerhaften Finanzierung von ungedeckten Auszahlungen oder zur Finanzierung von Zinsgeschäften dar. Für die Frage, ab welcher Kredithöhe die Aufnahme von Liquiditätskrediten signalisiere, dass einer Gemeinde keine ausreichenden Spielräume mehr für die Wahrnehmung freiwilliger Selbstverwaltungsaufgaben zur Verfügung stünden, existierten weder rechtliche Festlegungen noch einschlägige Rechtsprechung. Es sei neben der Dauerhaftigkeit auch die Höhe der Liquiditätskreditbelastung zu betrachten, zu bewerten und diese überdies in Relation zur Einwohnerzahl zu setzen. Der Rechnungshof Rheinland-Pfalz halte in seinem Kommunalbericht 2018 Liquiditätskreditschulden u.a. für problematisch, wenn sie pro Einwohner mehr als 1.000 Euro betrügen. Daneben könne die Liquiditätskredithöhe pro Einwohner in Relation zu dem landes- oder dem kreisweiten Durchschnitt gesetzt werden. Aus den vom Kläger und vom Statistischen Landesamt vorgelegten Zahlen ergebe sich, dass nach allen diesen Vergleichsmaßstäben langjährig mindestens ein Viertel, häufig sogar ein Drittel bis die Hälfte aller Ortsgemeinden im Bereich des Klägers durchgängig so hohe Liquiditätskreditschulden pro Einwohner aufwiesen, dass ihnen kein rechtlich abgesicherter Spielraum für nicht kreditfinanzierte freiwillige Selbstverwaltungsaufgaben mehr verbleibe. Deshalb sei die von dem Beklagten im Wege der Kommunalaufsicht durchgesetzte Erhöhung der Kreisumlage rechtswidrig. Der Einwand eines Eingriffs in die finanzielle Mindestausstattung sei vorliegend schließlich nicht deshalb ausgeschlossen, weil die mit dauerhaft hohen Liquiditätskrediten belasteten kreisangehörigen Gemeinden bei struktureller Betrachtung ihre Einnahmemöglichkeiten nicht ausgeschöpft hätten. Ausweislich der Kommunalberichte und eines vom Kläger vorgelegten Gutachtens lasse sich bei einer Querschnittsbetrachtung des Landkreisbereichs kein nennenswertes Potenzial für Einnahmesteigerungen im Bereich der Realsteuerhebesätze feststellen.

 

In der September-Ausgabe von STÄDTE- UND GEMEINDERAT hat sich bedauerlicherweise ein Fehler eingeschlichen. Bei der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zu den Regelungen des „kommunalen Bildungspaketes“ passten Titel und Fließtext nicht zusammen. Die Entscheidung mit der korrekten Kommentierung holen wir hiermit nach. Wir entschuldigen uns für dieses Versehen.

 

Regelungen des „kommunalen Bildungspaketes“

Das Bundesverfassungsgericht hat festgestellt, dass die Regelungen der Bedarfe für Bildung und Teilhabe teilweise wegen Verletzung des kommunalen Selbstverwaltungsrechts mit dem Grundgesetz unvereinbar sind. Dennoch bleiben die Regelungen bis zum 31. Dezember 2021 weiter anwendbar.

BVerfG, Beschluss vom 07.07.2020
- Az.:
2 BvR 696/12 -

Das BVerfG hat mit dem Beschluss klargestellt, unter welchen Bedingungen eine unzulässige Aufgabenübertragung durch die Erweiterung einer bestehenden Regelung im Sozialrecht vorliegt. Mit Verfassungsbeschwerde sind mehrere kreisfreie Städte aus Nordrhein-Westfalen gegen die neu getroffenen Regelungen der Bedarfe für Bildung und Teilhabe im Bundessozialhilfegesetz vorgegangen, die Aufgaben, die ihnen als örtliche Träger der Sozialhilfe bereits zugewiesen wurden, wesentlich verändert, erweitert und um neue Aufgaben ergänzt hätten.

Der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts hat erklärt, dass § 34 Abs. 1, Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 und Satz 2, Abs. 4 bis Abs. 7 und § 34a Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch (SGB XII) in der Fassung vom 24. März 2011 in Verbindung mit § 3 Abs. 2 Satz 1 SGB XII mit dem Grundgesetz unvereinbar sind. Dagegen entsprechen die in § 34 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 und Abs. 3 SGB XII geregelten Aufgaben inhaltsgleich bereits früher auf die Kommunen als örtliche Träger der Sozialhilfe übertragenen Aufgaben und sind daher mit dem Grundgesetz vereinbar.

Sachverhalt

§ 34 SGB XII in der verfahrensgegenständlichen Fassung bestimmt, für welche Bedarfe Leistungen für Bildung und Teilhabe erbracht werden; § 34a SGB XII enthält Vorgaben für die Gewährung der Bedarfe. Der Gesetzgeber reagierte mit dem Erlass dieser Vorschriften auf das Hartz IV-Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 9. Februar 2010. Dieses hatte ihm unter anderem aufgegeben, alle existenznotwendigen Aufwendungen in einem transparenten und sachgerechten Verfahren nach dem tatsächlichen Bedarf folgerichtig und realitätsgerecht zu bemessen.

Die Beschwerdeführerinnen machen im Rahmen der Kommunalverfassungsbeschwerde geltend, dass die angegriffenen Vorschriften gegen Art. 84 Abs. 1 Satz 7 GG verstießen, weil die Regelungen die ihnen als örtlichen Trägern der Sozialhilfe bereits zugewiesenen Aufgaben wesentlich verändert, erweitert und um neue Aufgaben ergänzt hätten.

Wesentliche Erwägungen des Senats

I. Zunächst hat der Senat ausgeführt, dass Art. 28 Abs. 2 GG durch das Durchgriffsverbot des Art. 84 Abs. 1 Satz 7 GG näher ausgestaltet wird. Art. 28 Abs. 2 GG schützt die Kommunen nicht nur vor unverhältnismäßigen Entziehungen von Aufgaben sondern auch vor Aufgabenzuweisungen, die aufgrund finanzieller und personeller Engpässe die Beibehaltung und den Ausbau freiwilliger Selbstverwaltungsaufgaben erschweren oder verhindern können. Ein Fall des Art. 84 Abs. 1 Satz 7 GG liegt vor, wenn ein Bundesgesetz den Kommunen erstmals eine Aufgabe zuweist und damit eine Erweiterung einer bundesgesetzlich bereits zugewiesenen Aufgabe vornimmt.

Eine Schranke findet das Durchgriffsverbot in der Übergangsregelung des Art. 125a Abs. 1 Satz 1 GG. Auf dieser Grundlage darf der Bund eine Anpassung des kommunalen Aufgabenbestandes an veränderte Rahmenbedingungen vornehmen; was darüber hinausgeht, verstößt gegen Art. 84 Abs. 1 Satz 7 GG.

II. Das BVerfG hat daher festgestellt, dass nach diesen Maßstäben die Regelungen in § 34 Abs. 1, Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 und Satz 2, Abs. 4 bis Abs. 7, § 34a SGB XII in der verfahrensgegenständlichen Fassung die bis dahin den örtlichen Trägern der Sozialhilfe zugewiesenen Aufgaben in einer gegen Art. 84 Abs. 1 Satz 7 GG verstoßenden Weise und die Beschwerdeführerinnen in ihrem Recht auf Selbstverwaltung verletzen.

1. Die Beschwerdeführerinnen sind für die Gewährung der Bedarfe der Bildung und Teilhabe nach § 34, § 34a SGB XII zuständig (§ 3 Abs. 1 und Abs. 2 Satz 1 SGB XII). Bei Inkrafttreten der §§ 34 und 34a SGB XII war ihnen als örtlichen Trägern der Sozialhilfe nur die Aufgabe übertragen, Bedarfe der Bildung und Teilhabe abzudecken (§ 31 Abs. 1 Nr. 3 und § 28a SGB XII in der bis zum 31. Dezember 2010 geltenden Fassung).

2. Die zu berücksichtigenden Bedarfe sind durch die angegriffenen Regelungen deutlich ausgeweitet worden. Auf der Grundlage dieser Regelungen müssen die Kommunen nunmehr einem erweiterten Kreis an Leistungsberechtigten zusätzliche Leistungen gewähren. Bedarfe für Schulausflüge – und nicht lediglich für mehrtägige Klassenfahrten – werden anerkannt; die Bedarfe werden zudem auf Kinder, die eine Kindertageseinrichtung besuchen, erstreckt. Erstmals werden Bedarfe für die Schülerbeförderung, die Lernförderung und die Mittagsverpflegung anerkannt. Ferner werden für alle Kinder und Jugendlichen Bedarfe für die Teilnahme am sozialen und kulturellen Leben in der Gemeinschaft berücksichtigt. Anspruchsberechtigt sind nicht mehr nur Schüler/innen, sondern auch Kinder, die eine Kindertageseinrichtung besuchen oder für die Kindertagespflege geleistet wird. Zudem sind nunmehr alle Kinder und Jugendlichen vor Vollendung des 18. Lebensjahres leistungsberechtigt. Schließlich werden die Leistungen – wenngleich unter einschränkenden Voraussetzungen – auch gegenüber Personen erbracht, denen keine Regelleistungen zu gewähren sind.

Die diesbezügliche Regelung des Verwaltungsverfahrens bürdet den Kommunen ebenfalls neue Lasten auf. So hängt die Berücksichtigung der Bedarfe von verschiedenen tatbestandlichen Restriktionen ab sowie von unbestimmten Rechtsbegriffen wie Angemessenheit oder Erforderlichkeit, die individuelle Wertungen voraussetzen. Das führt zu einer erheblichen organisatorischen und personellen Mehrbelastung der Kommunen beim Vollzug der in Rede stehenden Bestimmungen. Gleiches gilt mit Blick auf § 34a Abs. 2 Satz 1 SGB XII, der es den Trägern der Sozialhilfe überlässt, in welcher Form sie die Leistungen erbringen.

3. Die Ausweitung der kommunalen Leistungsverpflichtung hält sich nicht mehr innerhalb der Grenzen des Art. 125a Abs. 1 Satz 1 GG. Zwar gilt die Zuständigkeitszuweisung des § 3 Abs. 2 Satz 1 SGB XII, die vor dem 1. September 2006 erlassen wurde, insoweit fort. Die angegriffenen Regelungen haben den materiellen Inhalt der Zuweisung jedoch grundlegend verändert und stellen sich insoweit überwiegend als Zuweisung neuer Aufgaben dar. Das überschreitet die dem Bund nach Art. 125a Abs. 1 Satz 1 GG verbleibende Anpassungskompetenz.

III. Die Bedarfe für mehrtägige Klassenfahren (§ 34 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 SGB XII) und die Ausstattung mit persönlichem Schulbedarf (§ 34 Abs. 3 SGB XII) waren dagegen bereits vor Inkrafttreten der angegriffenen Regelungen in § 31 Abs. 1 Nr. 3 und § 28a SGB XII in der bis zum 31. Dezember 2010 geltenden Fassung vorgesehen; die Beschwerdeführerinnen waren hierfür als örtlicher Träger der Sozialhilfe auch zuständig. Insofern hat sich der kommunale Aufgabenbestand nicht verändert, ein Verstoß gegen Art. 84 Abs. 1 Satz 7 GG scheidet aus.

IV. Die mit dem Grundgesetz unvereinbaren Regelungen sind bis zu einer Neuregelung zum 31. Dezember 2021 weiter anwendbar. Die aus dem Ausspruch der Nichtigkeit folgende Verwerfung der §§ 34 und 34a SGB XII hätte erhebliche Unsicherheiten zur Folge und zöge nach einer (rückwirkenden) Neuregelung gravierende verwaltungsrechtliche Probleme nach sich. Bis zu einer Neuregelung könnten die Träger der Sozialhilfe mangels gesetzlicher Grundlage keine Leistungen der Bildung und Teilhabe mehr gewähren, sodass ein menschenwürdiges Existenzminimum im Sinne des Beschlusses des BVerfG vom 23. Juli 2014 (BVerfGE 137, 34) für Kinder und Jugendliche nicht mehr gewährleistet wäre. Bis zu einer Neuregelung würde somit ein verfassungswidriger Zustand geschaffen, dessen rückwirkende Heilung nicht durchgängig möglich wäre.

 

Erste Einschätzung aus kommunaler Sicht

 

Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts ist aus kommunaler Sicht ausdrücklich zu begrüßen und hat darüber hinaus Signalwirkung. Dem Bund ist es verfassungsrechtlich untersagt, durch ein Bundesgesetz den Kommunen erstmals eine bestimmte Aufgabe zuzuweisen oder eine äquivalente Erweiterung einer bundesgesetzlich bereits zugewiesenen Aufgabe vorzunehmen. Die Entscheidung stärkt das Selbstverwaltungsrecht der Kommunen nach Art. 28 II GG vor der einseitigen Übertragung von Aufgaben, ohne dass die Mehraufwendungen erstattet werden. Art. 28 Abs. 2 GG schützt die Kommunen nicht nur vor einer (unverhältnismäßigen) Entziehung von Aufgaben, sondern auch vor einer entsprechenden Aufgabenzuweisung. Das ist jedenfalls dann der Fall, wenn den Kommunen Tätigkeiten gegenüber dem Bürger auferlegt und sie zu deren Erfüllung verpflichtet werden. Daneben erfasst die Vorschrift bundesgesetzlich angeordnete Vorgaben für die kommunale Verwaltungstätigkeit wie Informations-, Berichts- und Kontrollpflichten, die nicht nur die kommunale Organisations- und Personalhoheit, sondern wegen der damit typischerweise verbundenen Kosten auch die Finanzhoheit berühren. Zu den in Frage stehenden sozialhilferechtlichen Bildungs- und Teilhabeleistungen gehören etwa Kosten für Klassenfahrten, der Zuschuss zum Schulbedarf, zur Lernförderung oder auch die Mittagsverpflegung. Zuletzt waren die Mittel durch das sogenannte „Starke-Familien-Gesetz“ noch einmal aufgestockt worden. Der Bund hat nun bis Ende nächsten Jahres Zeit, eine Neuregelung zu verabschieden. Im Anschluss müssen die Länder die Aufgabe auf die Kommunen übertragen und vollständig finanzieren. Die Entscheidung wird auch Ausfluss auf weitere Gesetzgebungsverfahren haben, z.B. den geplanten Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung auf Grundschulkinder, sowie die geplante SGB VIII-Reform.

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